© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/07 10. August 2007

Pankraz,
die documenta und das kleine Mammut

Etwas blümerant wurde Pankraz zumute, als er las, daß nunmehr "das älteste Kunstwerk der Menschheit", gar "das älteste Kunstwerk der Welt" gefunden sei, und zwar auf der Schwäbischen Alb von einem Paläontologenteam der Universität Tübingen. Es ist eine klitzekleine Elfenbeinschnitzerei, ein winziges, gerade mal vier Zentimeter langes und sieben Gramm schweres Urzeit-Mammut, dessen Alter die Gelehrten auf 35.000 Jahre schätzen. Die großartigen Höhlenmalereien von Altamira und anderen Fundstätten bringen es gerade auf die Hälfte dieser Zeit, 18.000 Jahre.

Auch das kleine schwäbische Mammut stammt aus einer Höhle, es lag im Knochen- und Elfenbeinschutt des "Vogelherds", in dem schon seit vielen Jahrzehnten nach Hinterlassenschaften des sogenannten Cromagnon-Menschen gegraben wird. Der Cromagnon-Mensch ist die älteste bekannte Erscheinungsform jenes homo sapiens sapiens, von dem alle modernen Menschen herkommen. Er war ein Steinzeitjäger, der in der zweiten Hälfte der letzten Eiszeit, der "Würmzeit" (benannt nach einem kleinen Alpenfluß), nach Europa kam und den Neandertaler allmählich verdrängte.

Seine technischen Fertigkeiten werden von den Forschern sehr gerühmt. Während die Neandertaler ihre Werkzeuge nur aus Feuerstein herzustellen wußten, verwendeten die Cromagnons bevorzugt Knochen, Elfenbein und Horn, weshalb man, sie betreffend, von der "Osteodontokeratik-Kultur" spricht, eben der Knochen-Zahn-Horn-Kultur. Der Cromagnon-Mensch, heißt es, habe bereits über erste Ansätze einer "abstrakten", die Erfahrungswelt bewußt durchdringenden und logisch ordnenden Sprache verfügt.

War er aber auch ein Künstler, vielleicht sogar "der erste Künstler", den es auf Erden gegeben hat? Was ist überhaupt Kunst? "Interesseloses, nur auf sich selbst gerichtetes Nachbilden gewisser Naturformen, beispielsweise der Symmetrie", sagen die einen. "Ekstatische Lebenssteigerung", sagen die anderen, "Erfinden gewisser regelmäßiger Laut- und Bewegungsabläufe zum Zwecke der Übersteigung des Alltags, des bloßen Überlebenstrotts". Das kleine Mammut aus der Vogelherdhöhle würde für keine dieser Bestimmungen Priorität und Erstmaligkeit beanspruchen können.

Herstellen bildlicher Symmetrien um ihrer selbst willen sowie regelhafte, wiederholbare Laut- und Bewegungsabläufe (Musik und Tanz) zur Lebenssteigerung kommen schon im Tierreich vor, bei den Kranichen, in Wolfsrudeln, in Bienenschwärmen. Bei dem kleinen Mammut ist nicht einmal ausgemacht, ob es bei seiner Herstellung überhaupt ein Moment interesselosen Wohlgefallens gegeben hat oder ob nicht alles reine Werkzeugmacherei, magische Schamanentechnik für die erfolgreiche Jagd war, wie ja später auch die Höhlenmalerei von Altamira und Lascaux.

Viele Funde aus dem frühen Aurignacien, der Periode also, aus dem das kleine Mammut stammt, haben eine auffallende funktionale Ähnlichkeit mit ihm. Es sind kleine Knochenstäbchen, Zahnteile oder Kalksteintäfelchen, in welche schemenhafte Zeichnungen eingeritzt sind, Tierumrisse oder schematisierte weibliche Geschlechtsorgane. Die Forscher sind sich darüber einig, daß die Cromagnons diese Zähne und Täfelchen ständig bei sich getragen haben, um Macht über Tiere, bzw. über das weibliche Geschlecht zu erlangen.

Manche der Gegenstände sind durchbohrt oder weisen Ösen auf, man kann vermuten, daß man sie einst an einer Kette aufgereiht um den Hals trug, und zwar nicht als simplen Schmuck, sondern als magische Talismane und Amuletts. Auch das jetzt ausgegrabene kleine Mammut besitzt solche Ösen. War es also "nichts als" ein Amulett, ein Zaubermittel zur Steigerung der Fruchtbarkeit und des Jagderfolgs? Der Gedanke liegt nahe, und er relativiert natürlich die von den Tübinger Paläontologen nahegelegte Einzigartigkeit des Vogelherdfundes beträchtlich.

Die Tübinger weisen auf die wundersame Vollkommenheit und Exzellenz ihres Mammuts hin, und sie tun das mit Recht. Es handelt sich wirklich um "urschwäbische Wertarbeit", wie eine Zeitung begeistert schrieb. Das kleine Mammut ist weiß Gott mehr als nur ein durchbohrter Zahn oder ein irgendwie vollgekritzeltes Täfelchen, es ist ein absolutes Meisterwerk mimetischer Kunstfertigkeit, so klein es ist; die Gestalt des Tieres ist so trefflich nachgebildet, daß auch der anspruchsvollste Zoologe nicht die geringste Abweichung von der Wirklichkeit monieren könnte.

Nur eben: Seit wann und wo gilt denn ausgerechnet mimetische Genauigkeit, vollendeter Naturalismus wieder als Ausweis wahrer Kunst? Unser Zeitalter ist doch nach wie vor, speziell was die bildende Kunst betrifft, geradezu aggressiv gegen die "bloße" Nachahmung der Natur. Ein einziger Gang durch die derzeitige "documenta" in Kassel genügt: Faktisch keiner der dort zum Zuge kommenden Künstler will nachahmen, jeder will vielmehr selber Natur "schaffen". Niemand feiert Gottes Schöpfung, alle spielen selber Schöpfer.

Insofern steht das kleine Mammut aus dem Vogelherd völlig quer zum gegenwärtigen Kunstbetrieb. Man möchte beinahe Mitleid mit ihm haben, bzw. mit seinem unbekannten Schöpfer, der sich - offenbar im scharfen Gegensatz zu seinen virtuell kritzelnden und bohrenden Kollegen - so viel Mühe gab. Die Nachwelt wird ihm wohl, trotz der augenblicklich noch anhaltenden Begeisterung der Medien über den "unerhörten Fund", keine dauerhaften Kränze winden.

Ob ihm wenigstens die Mitwelt seinerzeit Kränze geflochten hat? Wahrscheinlich auch nicht. Seine Schöpfung stellt, zumindest nach dem bisherigen Fundbestand, ein einsames Unikat jener Zeit dar. Und es dauerte danach noch immerhin fast 20.000 Jahre, bis  mit der Höhlenmalerei eine wahre (freilich vergängliche) Orgie der mimetischen Genauigkeit ausbrach, die ihm späte Genugtuung hätte widerfahren lassen.


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