© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/07 17. August 2007

Pankraz,
Beethovens Neunte und das gute Gelingen

Eine Ausstellung von bisher unbekannten Werken eines bedeutenden, leider verstorbenen Künstlers, den Pankraz sehr bewundert, erwies sich als partielle Enttäuschung. Durchschnittsware war da zu sehen, sogar einige ausgesprochene Fatalitäten, die man dem Meister nie zugetraut hätte. Offenbar gibt es nicht nur große und kleine, gute und schlechte Künstler, sondern auch kleine in großen, schlechte in guten, will sagen: Bei weitem nicht alles gelingt einem großen Meister, er ist jeweils nur zeitweise auf der Höhe seiner selbst, muß sich jedesmal von neuem zu ihr emporarbeiten.

Keine besonders exquisite Einsicht, mögen manche sagen, und das stimmt auch. Aber normalerweise wirft man Mißlungenes ja weg, zerstört es, um nicht von ihm blamiert zu werden. Die selbstkritischen Wegwerfer und Zerstörer jedoch sind selten, gerade unter bildenden Künstlern. Poussin soll einer gewesen sein, in der Neuzeit Balthus. Das Gros der anderen neigt eher zum Gegenteil. Buchstäblich jeder Dreck wird von ihnen aufgehoben und sorgfältig archiviert. Und wenn nicht sie selbst, so sind es mit Sicherheit die Erben oder irgendwelche Archivwürmer, die die Bestände eines Tages ohne Rücksicht auf Blamage an die Öffentlichkeit bringen.

Was heißt übrigens Blamage? Hat einer eine gewisse Berühmtheit erlangt, einen "Namen", so verwandelt sich sein Schrott automatisch in finanzhaltiges Versteigerungsgut, wird zum Spekulationsobjekt oder wenigstens zum Bestandteil von "Erinnerungskultur". An sich leicht durchschaubare Tapsigkeiten oder Fehlgriffe mutieren zu "wertvollen Vorstudien", die die Gelehrtenwelt fast noch mehr beschäftigen als der gelungene Endzustand. Gibt es in der Kunst denn überhaupt, so fragen Kritiker und Theoretiker, einen Endzustand? Ist nicht alles nur Annäherung an ein (geträumtes) Ideal?

Traum und Realität. In der Bildhauerei klassischen Stils konnte ein einziger unpräziser kleiner Meißelhieb ganze große Plastiken ein für allemal verderben, d. h. vom Traum wegführen. Ähnlich die  Situation in der Holzschneiderei oder bei Kupferstichen. Anders dagegen in der Malerei. Hier ließ sich schon immer schier ewig überpinseln und wiederwegkratzen und wieder neupinseln; den Moment zu bestimmen, wo etwas "fertig" war, lag (und liegt nach wie vor) einzig und allein in der Subjektivität des Künstlers.

Pankraz erinnert sich an einen "Künstlerroman" aus dem neunzehnten Jahrhundert, wo ein berühmter Maler (war es Rembrandt?) pinselte und überpinselte und wegschabte und wieder pinselte - und schließlich zerriß er das Bild in einem rasenden Wutanfall trotzdem, weil es nicht seiner Idee entsprach. Viele, viele angestrengteste Arbeitsstunden waren vertan. Doch das war Literatur, nicht Wirklichkeit, schon gar nicht Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts. Heute müßte man sich wundern, wenn der Künstler seine Wut nicht hinunterschlucken und das mißlungene Werk nicht umgehend auf die nächste Auktion schicken würde.

Ob das überall zu registrierende allmähliche Verschwinden des Ideals der Gelungenheit für die Kunst insgesamt gut ist, darf indes bezweifelt werden. Sicher, Ideal und Wirklichkeit sind zwei verschiedene Dinge, und in letzterer gibt es tatsächlich nichts Fertiges und mithin auch nichts endgültig Gelungenes. Auch das Kunstwerk, jedes Kunstwerk, in welchem Genre auch immer, bleibt notwendig unvollkommen, läßt Wünsche offen, reizt zu kritischen Einwänden. Unsere menschlichen Werke sind und bleiben Fragment, Torso, Steinbruch. Wer anderes behauptet, macht sich etwas vor.

Das bedeutet aber noch lange nicht, daß die Künstler von vornherein mit der Absicht antreten dürften, auf das Ideal der Gelungenheit zu verzichten und bewußt Halbfertiges, Mürbes und Ruinöses zu produzieren. Solche absichtliche Ruinenbaumeisterei ist längst ad absurdum geführt. Als seinerzeit die Jenaer Frühromantiker um 1800, Novalis, Tieck, Friedrich Schlegel, derlei  allen Ernstes in die Literatur einführen wollten, fielen sie gründlich auf die Nase.

Nach einer kurzen Phase des aktuellen Interesses wandte sich das Publikum verärgert und für immer ab, und auch die Protagonisten selbst merkten bald, daß es eine Kunst des Fragments ehrlicherweise gar nicht geben kann. Wer sich vornimmt, nichts wirklich Gelungenes, sondern Fragmente zu schaffen, hat ja durchaus ein Ideal vor Augen, eben das Fragment, das "gelungene Fragment", dessen Gelungenheit darin besteht, gar nicht mehr nach irgendeiner Richtung hin  fertigwerden zu wollen.

Zum Wesen der Kunst gehört primär, daß der Künstler versucht, eine Idee zu "verwirklichen", und zwar ohne daß der Wirklichkeit dabei Zugeständnisse gemacht werden. Genau betrachtet entstehen dabei freilich stets "nur" Fragmente, aber es sind unabsichtliche Fragmente, die dem Künstler in der Seele weh tun und ihn gegebenenfalls in Verbissenheit und Zerstörungswut treiben. Gewissermaßen Symbole für solche unabsichtlichen Fragmente sind die sogenannten "Unvollendeten", bei deren Entstehung der Tod, die endgültige Form von Wirklichkeit, dazwischenkam, Beethovens "Neunte" etwa oder Gaudis "Sagrada Familia" in Barcelona.

Solche Schöpfungen sind von Tragik umweht, ihre Schöpfer werden als Heroen verehrt, die bis zuletzt mit der Wirklichkeit um Vollendung rangen und dadurch zum Sinnbild dessen wurden, was dem wahren Künstler am meisten ziemt: sich niemals mit dem Ungelungenen abzufinden, bis zuletzt um die "Verwirklichung" seines Ideals zu ringen und es nie um billiger Eitelkeit willen oder gar aus schnödem Profitinteresse preiszugeben. Auch die Beseitigung von offensichtlich Ungelungenem durch eigene Hand zählt zu dem, was sich eigentlich ziemt.

Was aber die eingangs erwähnte Ausstellung betrifft, die wenigen Fatalitäten, so tröstet sich Pankraz über sie hinweg mit dem Gedanken, daß  hier der Tod dem Künstler in die Parade gefahren ist. Er hat ihn daran gehindert, gewisse Einzelstücke aus dem Rennen zu nehmen.


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