© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/07 17. August 2007

CD: Klassik
Gustavo Mahler
von Jens Knorr

So dirigiert man mit Sechzig! Gustav Mahlers Fünfte, seine unbekannteste Symphonie mit seinem bekanntesten Stück, dem Adagietto, das mit Viscontis Film "seinen Siegeszug als Monstranz der verkitschten Sentimentalität antrat" (Jens Malte Fischer). Gustavo Dudamel benötigt für das Adagietto 10'42 Minuten, wofür die Dirigenten Mengelberg und Walter, die noch Aufführungen unter Mahler erlebt hatten, zwischen sieben und acht Minuten benötigt hatten. Den ersten Satz, den Trauermarsch, läßt er in etwa den Tempi, 12'42 Minuten, spielen, die auch Mahler selbst auf der Welte-Mignon-Pianorolle, 12'49 Minuten, genommen hatte.

Wer zu der Aufnahme von Mahlers Fünfter mit dem venezolanischen Jugendorchester "Simón Bolívar" unter Gustavo Dudamel greift - und er sollte zugreifen! (Deutsche Grammophon 00289 477 6545) -, der erlebt keine pubertären Überrumpelungseffekte, keine Interpretationsexzesse, "das largo zu langsam, das presto zu schnell", so Mahlers Stoßseufzer. Aber der bekommt die problematische Architektonik des Ganzen verblüffend plausibel ausgelegt, die ausdifferenzierte Instrumentation, die vertrackten Stimmverläufe so durchhörbar, die Vortragsbezeichnungen so gewissenhaft wie nur irgend möglich ausgeführt, der bekommt, von der crescendierenden Triole der Solotrompete eingangs des ausdrucksvoll ausdruckslosen Trauermarschs an, über Verzweiflungssturz und Glückswirbel und Weltabhandenkommen hinan zum finalen Liebesjubel, eine Fünfte, die sich gewaschen hat.

So dirigiert man doch noch nicht mit 26? Und so spielt man doch noch nicht, wenn man unter 25 ist und aus Venezuela kommt?

Wen sonst als Mahler oder Beethoven - eine Einspielung der 5. und 7. Symphonie unter Dudamel liegt vor - sollte denn spielen, wer inmitten einer zerrütteten Welt aus Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Drogen aufwächst? Die Weltstars der Klassik werden kaum mehr in Deutschland geboren und schon gar nicht gemacht. 

Gustavo Dudamel ist ein Kind der Fundación del Estado para el Sistema de Orchesta Juvenil e Infantil de Venezuela, kurz "Fesojiv" oder "el sistema" genannt, mit welcher der venezolanische Staat seit nunmehr 30 Jahren den künstlerischen Nachwuchs vor allem aus sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten fördert, Kindern und Jugendlichen Selbstachtung, Identität, Ziele, Hoffnung gibt. Während in Deutschland vielerorts Musik als Schulfach nicht mehr flächendeckend angeboten wird, das Erlernen eines Instruments für viele unerschwinglich geworden ist, vermitteln in Venezuela 15.000 Musiklehrer einer Viertelmillion Kinder musikalische Grundlagen, und viele spielen in den 125 Jugendorchestern, mehr als in Vereinen Sport treiben. Es ist eine Musikbewegung, die eine Volksbewegung ist.

Gustavo Dudamel, 1981 geboren, beginnt mit zehn Jahren Geige zu spielen, mit 14 zu dirigieren, wird mit 17 Musikdirektor des Jugendorchesters "Simón Bolívar". Ab 1999 studiert Dudamel bei Antonio Abreu, dem Schöpfer und Leiter des "sistema". Auf Abreus Anregung erarbeitet er Mahlers Fünfte, dirigiert sie 2004 beim Gustav-Mahler-Dirigierwettbewerb der Bamberger Symphoniker - und gewinnt.

Alfieris "E la fama?" und Gozzis "E la fame?" hat der Dichter und Linksterrorist Georg Büchner seinem deutschesten aller deutschen Lustspiele als Motto vorangestellt. Die kunsthungrigen Musiker des Jugendorchesters "Simón Bolívar" beantworten die eine wie die andere Frage mit ihrem europäischen Klassiker. Ihr Ton ist nicht satt! Sie stellen in Mahlers Schicksalssymphonie das Eigentliche aus dem Uneigentlichen wieder her. Die dürfen, wir dürfen nicht! Und weil die dürfen, darf auch das Adagietto zwei Minuten länger dauern als bei Mengelberg und Walter -  um diese zwei Minuten nicht zu lang.


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