© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/07 17. August 2007

Die totalitäre Sehnsucht nach dem ganzen Menschen
Der Münchner Historiker Hans Otto Seitschek hat eine bemerkenswerte Studie zur Messianismus-Theorie Jacob Leib Talmons vorgelegt
Klaus Hornung

Die Trilogie des israelischen Historikers Jacob L. Talmon (1916-1980) über die Ursprünge der totalitären Bewegungen und Herrschaftssysteme des 20. Jahrhunderts (Die Ursprünge der totalitären Demokratie, 1961; Politischer Messianismus, 1963; The Myth of the Nation and the Vision of Revolution, 1980) fehlte lange Zeit in keiner historisch-politischen Bibliographie. Aber wie die Totalitarismusdebatte insgesamt fiel auch Talmons Lebenswerk dann dem politischen und wissenschaftlichen Paradigmenwechsel seit den sechziger Jahren zum Opfer. Erst ab 1990 führte das neue Paradigma der "politischen Religionen" wieder in eine "Kernzone diktaturkritischer Reflexion" (Markus Huttner), und damit fand auch das eindrucksvolle Œuvre Talmons erneut verdiente Beachtung.

Die vorliegende Arbeit des jungen Historikers Hans Otto Seitschek, die als Münchener Dissertation von Hans Maler betreut wurde, gehört in diesen Umkreis neuer Forschungen und Darstellungen zum Thema "Totalitarismus und Politische Religionen", die von einer jungen Historikergeneration (Markus Huttner, Volker Kronenberg und anderen) fortgeführt werden. Der Autor skizziert zunächst das Leben des wissenschaftlich anregenden, 1980 im 64. Lebensjahr verstorbenen Jacob Talmon, um sodann dessen fruchtbares Konzept des Politischen Messianismus in die Geschichte des Verhältnisses und der Unterscheidung zwischen Religion und Politik seit der christlichen Wende in Europa einzuordnen bis hin zum christlichen Widerstand gegen die totalitären Ideologien und Systeme im vorigen Jahrhundert. Abschließend bewertet der Autor Talmons Werk als philosophische Geschichtsschreibung in ihrer zeitgeschichtlichen Nähe etwa zu Hannah Arendt, Raymond Aron bis hin zu Heidegger, Jaspers oder Ceslaw Milosz.

Ausgehend von der messianischen Religiosität im Judentum und Christentum und auch im schiitischen Zweig des Islam mit ihrem Warten und Hoffen auf den Rettung und Erlösung bringenden Messias, hat Talmon sich schon früh mit den eigentümlichen häretischen Sekten in Europa vom 15. bis zum 17. Jahrhundert befaßt, den radikalen Hussiten, den Wiedertäufern in Münster und den radikalen Puritanern der Cromwell-Zeit, um dann die Wurzeln der totalitären Demokratie und des Politischen Messianismus in der Philosophie des 18. Jahrhunderts und in der Französischen Revolution aufzusuchen, in der betont säkularistischen Aufklärung und ihrem ordre naturel, in Rousseaus Zivilreligion, die sich dann in der Jakobinerdiktatur 1793/94 als leidenschaftlicher Glaube und totale Entäußerung an das Kollektiv des allgemeinen Willens manifestierte.

Nach dieser Frühphase der totalitären Demokratie entfalteten sich seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts denn die beiden mächtigen Bewegungen des messianischen Nationalismus und eines sozialistischen Messianismus, der seinen Höhepunkt im messianischen Kommunismus des Karl Marx fand. Beide Ströme prallten schließlich im "Bürgerkrieg" des 20. Jahrhunderts (Ernst Nolte) mit der liberalen Demokratie zusammen; beiden ging es um die "Revolutionierung der Gesellschaft als Ganzes", um das Glück eines "neuen Menschen" in einer neuen Gesellschaft. "Der Bezugspunkt des modernen Messianismus ist die Vernunft und der Wille des Menschen. Sein Ziel, das Glück auf Erden, ist durch soziale Umformung zu erreichen. Der Bezugspunkt ist weltlich, die Forderungen aber sind absolut." (Talmon)

Talmon gehörte mit diesem eigenständigen ideengeschichtlichen Ansatz in die Reihe jener Autoren, die wie etwa Eric Voegelin die politischen Ideologien der totalitären Diktaturen in ihren Analogien und zugleich ihrem fundamentalen Gegensatz zu den authentischen Erlösungsreligionen als "säkulare Religionen" beschreiben mit ihrer eigentümlichen Sakralisierung der politischen Sphäre, die ihnen in der Wurzel und Transzendenzlosigkeit der industriellen Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts eine nachhaltige Durchschlagskraft verlieh. Talmons Ausgangsfrage war, was die "revolutionären Heilskonzepte" eines Lenin und Hitler dazu bringen konnte, sich zu totalitären Diktaturen und Terrorregimen zu entwickeln, und seine Antwort darauf war eindeutig: Die Ursache ist in der Hybris des Bauens auf die Vernunft und den Willen des Menschen zu suchen, in seiner hybriden Entschlossenheit, absolute Forderungen in dieser Welt durchsetzen zu wollen und dabei die Fehlbarkeit und Schwächen des Menschen zu leugnen.

In dieser Hybris - er verwendet auch ausdrücklich den jüdischen und christlichen Begriff der "Erbsünde" (original sin) - sieht Talmon die eigentliche Wurzel des Gewaltpotentials dieser Systeme und Regime, ihrer gnadenlosen Ausschaltung, "Liquidierung" der Nonkonformen und Widerstrebenden, der Klassen- und Rassen-"feinde". Es ist der Verlust und bewußte Verzicht des weltlichen, politischen Messianismus auf die authentischen religiösen Bezüge der Transzendenz und Offenbarung, die seinen Willen ins Werk setzen, die eigene Lehre gegen alle Widerstände durchzusetzen, und ihn mit Religion und Kirchen in einen Konflikt "auf Leben und Tod" bringen müssen. Der Satz des "Blutrichters" Roland Freisler im Prozeß gegen Helmuth James Graf Moltke - "Eines haben das Christentum und wir Nationalsozialisten gemeinsam, und nur dies eine: Wir verlangen den ganzen Menschen" - wurde zum Leitmotiv dieses Konflikte. Talmons letzter Maßstab ist der Messianismus "in seiner besten und ursprünglichen Gestalt", mit seiner Tiefe und Intensität des Gewissens, der unerschrockenen Frage nach der Legitimität politischer Macht, seinem "angstvollen Ringen mit den Mysterien des Bösen", seinem Protest gegen Unterdrückung jeder Art und der richtig verstandenen "Sehnsucht nach Hingabe an ein Absolutes".

Mit diesem Maßstab begründet Talmon nicht nur seine fundamentale Kritik an den politisch-messianischen totalitären Gewaltregimen, sondern auch an der europäischen Moderne insgesamt. Er blieb ein skeptischer Konservativer gegen ihre Hoffnungen auf die Güte und Perfektibilität des Menschen, ihre theologisch ungenügend unterbaute Zivilreligion der Menschenrechte und ihrer Versprechen, Bedürfnisse zu erfüllen, die angesichts der condition humaine "niemals befriedigt werden können". Dieser Maßstab läßt keinen Zweifel daran, daß der Politische Messianismus der liberalen Gesellschaft wie ihr Schatten folgt, die offene Gesellschaft stets eine offene Flanke gegenüber der "totalitären Versuchung" (François Revel) bietet, sofern sie nicht die Grenzen der autonomen Vernunft achtet und die irdischen Ordnungen vom Reich Gottes nicht klar unterscheidet. Ohne diese Grenzziehung, etwa im Sinne von Luthers Lehre von den Zwei Reichen, steht sie immer in der Gefahr - unsere Gegenwart der Political Correctness, ihrer Gesinnungsdiktatur und Geschichtspolitik zeigt das deutlich -, die dem allgemeinen Willen Widersprechenden als außerhalb des Gesetzes, "hors de loi" zu erklären. Die Parole der militanten Aufklärung: "Wen diese Lehren nicht erfreun, verdienet nicht ein Mensch zu sein",  bleibt ein steter Anstoß zum Nachdenken.  

Hans Otto Seitschek: Politischer Messianismus. Totalitarismuskritik und philosophische Geschichtsschreibung im Anschluß an Jacob Leib Talmon. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2006, broschiert, 295 Seiten, 39,90 Euro


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