© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/07 24. August 2007

Noch im Ästhetischen
Konservatismus: Er wird geduldet, solange er politisch unverbindlich bleibt
Doris Neujahr

Hat das Konservative eine politische Chance, nur weil der Zeitgeist den lange geschmähten Begriff jetzt zuläßt, ihn sogar ein wenig hofiert? Was wäre dann sein aktueller Inhalt und welche seine Bedeutung für die Zukunft? Die Frage kann nur im Zusammenhang mit den beiden anderen politischen Grundideen des 19. Jahrhunderts, dem Liberalismus und dem Sozialismus, beantwortet werden, denen der Konservatismus im 20. Jahrhundert seine Marginalisierung verdankt.

Der klassische Liberalismus trat ein für die Grundrechte, den Verfassungsstaat, für Wahlen, für ein Parlament, für freie Wirtschaft und Handel. Gegen den Feudalstaat und religiöse Bevormundung verfocht er die individuelle Freiheit. Der Gefahr der Anarchie, die er damit heraufbeschwor, begegnete er mit der Rückbindung an den Staat. Der klassische Liberalismus war eine hierarchische, elitäre Angelegenheit. Das Eigentumsrecht hielt er heilig, das Bürgertum war sein sozialer Ort. Dem Begriff "Bürgertum" ist heute bis auf Restspuren die soziale Realität abhanden gekommen - durch die soziale und gesellschaftliche Mobilität, die der Liberalismus selber angestoßen hat.

Der marxistisch inspirierte Sozialismus setzte auf den Umsturz, ehe die Sozialdemokratie auf den Revisionismus einschwenkte. Die Verbindung von sozialer Teilhabe und politischer Emanzipation wurde im Ausbau des Sozialstaates verwirklicht. Eine Revolution fand hingegen auf kulturellem Gebiet statt. Im Ergebnis von 1968 wurde der Anspruch auf "Selbstverwirklichung", das materiell abgesicherte Lustprinzip, zu einem modernen Menschenrecht erhoben. Es hat in allen gesellschaftlichen Schichten das Ziel der politischen Emanzipation ersetzt.

Wieviel gesellschaftliche Wirklichkeit bilden die Begriffe Liberalismus und Sozialismus da noch ab? Beide Prinzipien haben ihre Wirkung entfaltet, sind inzwischen aber überformt worden von der Massendemokratie und Massenkonsumgesellschaft, den westlichen Varianten der Massengesellschaft. Erst in ihr wurde der Sozialhilfeempfänger möglich, der über mehr Geld verfügt als mancher Vollzeitarbeiter. Dieser Massenmensch widerspricht mit seinem Gleichheitsanspruch sowohl dem liberalen Grundsatz, der die Leistung zum Maßstab erhebt, wie auch dem Solidaritätsgedanken ehrbarer Sozialisten.

Die Massengesellschaft hat ihren Preis und unlösbaren Widerspruch. Um den allgemeinen Wohlstand zu sichern, ist sie auf die Spitzenleistungen einer Elite angewiesen, andererseits ist ihr nichts so suspekt wie die soziale Hierarchie und die elitäre Sezession. So zerstört sie die eigenen Grundlagen durch permanente Nivellierung. Ein Beispiel bietet der Bildungsbereich, wo die Ansprüche gesenkt werden, um auch Leuten ohne ausreichende Befähigung höhere Bildungsabschlüsse zu ermöglichen. Denn das gehört zur Gleichheitsidee, daß es keine unterschiedlich Begabten mehr gibt, nur sozial Benachteiligte. Bezog die Gesellschaft einst ihre Dynamik daraus, daß Menschen, die auf der sozialen Leiter tiefer standen, mit verdoppelter Energie an ihrem Aufstieg arbeiteten, fordern sie heute die Betreuung durch den Staat ein.

Denn zum Staat hat der Mensch der Massengesellschaft ein unmittelbares Verhältnis. Er muß ihm ersetzen, was er als sein unverschuldetes persönliches Defizit empfindet. Die Verstaatlichung des Lebens, die Absorption der Energien und Ressourcen durch die fortschreitende Bürokratisierung, Verrechtlichung, Steuer­erhöhung usw. - das alles dient nur dem einen Zweck, die Sozialmaschine zum Zwecke der Massenwohlfahrt in Gang zu halten, auch wenn dadurch die Substanz der Gesellschaft aufgezehrt wird.

Die politische Führung fördert diese Entwicklung, um bei Wahlen Zustimmung zu finden. Sie selber ist längst Abbild und Teil der Massengesellschaft und damit ohne tradierte, gemeinsame Konvention. In immer größerer Zahl rekrutiert sie sich aus Aufsteigern aus dem subakademischen Lumpenproletariat, die Grünen waren die Vorreiter. Wichtiger als die sachliche ist in der Massendemokratie die mediale Kompetenz, die Fähigkeit, die von den Massenmedien geweckte oberflächliche Art der Politikwahrnehmung zu bedienen.

An diesem Zustand von Politik und Gesellschaft entzündet sich Unbehagen, gegen die Verstaatlichung des Privaten und der Familie regt sich Widerstand. Dieser greift in der Tat auf konservative Ursprünge zurück. Er fragt nach den Verlusten und Schäden, die die Schleifung von Konventionen und Institutionen, die höhnische Delegitimierung von Traditionen nach sich gezogen haben, er sucht zerstörte Bindungen und Umgangsformen zu rekonstruieren. Aber das sind - jedenfalls vorerst - eher ästhetische als politisch-konzeptionelle Projekte und noch kein Beweis, daß der Konservatismus das 20. Jahrhundert überlebt hat.

Ganz gegen seine Tradition und Intention sieht er sich in Opposition zum Staat gestellt - zum Staat der Massengesellschaft. Wo ist darin sein sozialer Ort, sein Rückzugsgebiet, seine politische Bastion? Es gibt sie nicht. Spätestens, wenn seinen Kindern untersagt wird, vor den Segnungen des multikulturellen Unterrichts an Privatschulen auszuweichen, wird der Konservative, ob alt oder neu, spüren, daß er von der Massendemokratie nur so lange geduldet wird, wie er im Stadium des Ästhetischen und politisch Unverbindlichen verharrt.


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