© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/07 24. August 2007

Grenzen des Ideologischen
Ein Tagungsband der Preußischen Historischen Kommission zur Nähe von Politik und Wissenschaft in der Preußenforschung
Patrick Böhme

Zweihundert Jahre "Preußische Reformen": Wenn der Spiegel (33/07) sich dieses historischen Kalenderblattes annimmt, dann geht es ohne die Verbeugung vor dem "radikalen Konstruktivismus" nicht ab, und mit vielen bunten Bildern wird an die 1807 eingeleitete "Erfindung des modernen Staates" erinnert. Doch ungeachtet der modischen Rede von der "Erfindung" erzählen die Hamburger Meinungsmacher eigentlich nur die "vor Pisa" allbekannte Schulbuchmär, wie Stein, Hardenberg, Humboldt&Co. das preußische Staatsschiff wieder seeklar gemacht haben.

Bemerkenswert daran ist allein, daß der Spiegel diese alte Geschichte ins Titelblatt hievt und so "groß fährt", daß dies nicht einmal mit der Nachrichtenflaute im Sommerloch zu erklären ist. Preußen, der 1947 per Siegerdekret "abgeschaffte" Staat, läßt sich also immer noch erinnerungspolitisch erstaunlich gut vermarkten. So bleibt das Thema "Preußen" weiter aktuell, wenn auch bei weitem nicht in derart ambitioniert reflektierter Form wie auf der im Herbst 2004 veranstalteten Tagung der Preußischen Historischen Kommission, deren Ergebnisse nun in einem von Wolfgang Neugebauer (Würzburg) herausgegebenen Sammelband vorliegen.

Auch hier geht es, ohne daß Herausgeber und Beiträger dies explizieren, um die "Erfindung" Preußens. Freilich nicht in dem Sinne, daß man den Akteuren, die angeblich 1807, 1871 oder 1918 munter "konstruiert" haben, an ihren Reißbrettern über die Schultern schaut. Vielmehr steht die Rolle zur Diskussion, die Historiker spielten, damit "Preußen" im Kopf entstand, das Bewußtsein formierte, Sinn stiftete, Orientierung gab, kollektive Identität aufbaute, handlungsleitend wurde.

Zwangsläufig muß dies, wie Neugebauer einleitend hervorhebt, zur Frage nach dem Verhältnis zwischen "innerwissenschaftlichem Forschungsinteresse" und "politischer Instrumentalisierung" führen. Welche politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen waren für die Beschäftigung mit Preußens Geschichte förderlich oder hinderlich? Welche Zeitabschnitte, Personen, Kulturen, Provinzen erfreuten sich der Aufmerksamkeit der Historiker, welche Aspekte der preußischen Geschichte standen beim Sinnstiftungsgeschäft im Vordergrund?

Solche Erkenntnisinteressen scheinen sich im herkömmlichen "ideologiekritischen" Rahmen zu bewegen. Doch gerade Neugebauers eigener Beitrag, der von den "preußischen Staatshistoriographen des 19. und 20. Jahrhunderts" handelt, will die "klassische" ideologiekritische Reduktion von Bewußtsein auf Sein, von "Geist" und Wissenschaft auf "Funktion" politischer, sozialer und ökonomischer Kräfte unterlaufen. Denn ausgerechnet jene "Staatshistoriographen", bei denen man schon aufgrund ihres Titels dazu neigt, sie als bloße Höflinge und Lohnschreiber zu verdächtigen, erweisen sich als wenig geeignet, um zu belegen, wie das "Haus Brandenburg" Geschichtspolitik trieb.

Neugebauers Studie, die entgegen ihrem Titel bis ins 17. Jahrhundert zurückführt, belegt, daß von diesen amtlich bestellten Historikern keine nennenswerten Impulse für die Erforschung der brandenburgischen oder preußischen Vergangenheit ausgingen. Ungeachtet dieses Ehrenamtes beschäftigten sich etwa Johannes von Müller um 1800 weiter mit seiner monumentalen "Schweizer Geschichte", und sein Nachfolger Barthold Georg Niebuhr ließ sich von seiner "Römischen Geschichte" nicht durch Preußisches behelligen.

Erst nach 1840, mit Ranke, faßte die Staatsführung ins Auge, den Staatshistoriographen geschichtspolitisch einzuspannen. Mit Droysen und Treitschke erringen dann Männer diese Charge, die als "politische Professoren" die Grenze zwischen Wissenschaft und Publizistik souverän ignorieren. Trotzdem glaubt Neugebauer, auch bei ihnen keine "gesteigerte Indienstnahme" durch den Staat feststellen zu können, ebensowenig wie bei Schmoller und Koser, die als Amtshistoriographen die Stellen bis zum Ersten Weltkrieg besetzten. Nicht zuletzt, weil das "Kulturgut der Wissenschaftsfreiheit" im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer größeren Respekt genossen habe, sei die Position des Staatshistoriographen für den Wissenschaftler nützlicher gewesen als für den Auftraggeber und dessen praktisch-politische Absichten.

Wie Neugebauer ist auch Klaus Neitmann (Potsdam) in seinem Beitrag über die Organisationsformen der Landesgeschichtsforschung am Beispiel der Provinz Brandenburg bestrebt, die Autonomie der Wissenschaft gegenüber politischen Verwertungsinteressen nachzuweisen. Ein starkes Argument dafür ergibt sich aus der Tatsache, daß sich Brandenburgs Landeshistoriker anders als ihre Kollegen in Schlesien oder Ostpreußen trotz der neumärkischen Grenze gegen Polen nach 1918 nicht am "Volkstums- und Grenzlandkampf" in der "Wissenschaftskonkurrenz" mit Warschau beteiligten. Daß sie in einem preußischen Stammland aber stets die "Liebe zur Heimat wecken", also regionale Identität stiften wollten, von ersten Vereinsgründungen in der Vormärzära bis 1945, läßt doch an der These zweifeln, Historiographie könne mit Inhalten und Wertungen unabhängig von der Politik bestehen.

Welche extremen Formen solche politische Infiltration zeitigen konnte, zeichnet Roland Gehrke (Stuttgart) in seiner Studie über das negative Preußenbild der polnischen Historiographie zwischen 1850 und 1918 eindrucksvoll nach. Hier sind nicht einmal mehr Restbestände wissenschaftlicher Autonomie zu entdecken, so sehr haben sich die Historiker in Krakau und Warschau in den Dienst chauvinistischer Propaganda begeben. Ein knapper Ausblick Gehrkes deutet an, daß sich dies nach 1918 zu wahren Exzessen steigerte und die polnische "Geschichtsschreibung" ihrer "nationalistische Ausrichtung" mindestens bis 1989 treu blieb.

Um dafür ein freilich nicht adäquates Gegenstück auf deutscher Seite zu präsentieren, muß Frank-Lothar Kroll (Chemnitz) sich in engen zeitlichen Grenzen bewegen, wenn er "Preußenbild und Preußenforschung im Dritten Reich" thematisiert. Hier habe es zwar eine exzessive Ideologisierung der Person Friedrichs des Großen, eine Inanspruchnahme des Preußentums "als Weg zum nationalen Sozialismus" und, flankiert von Rassegedanken und Ostorientierung, eine Idealisierung des Ordensstaates gegeben.

Trotzdem hält Kroll - wie Neugebauer und Neitmann auf die Autonomie der Wissenschaft fixiert - gegen einen jüngeren historiographischen Trend, "Affinitäten" zwischen nationalsozialistischen und nationalkonservativen Geschichtsbildern herauszustreichen, unbeirrbar daran fest, daß etwa ein Vergleich des NS-"Friedrichbildes" mit dem der akademischen Forschung keinen "konzisen Anhaltspunkt für ihrer beider Ineinssetzung im Zeichen einer vermeintlich weitgehenden Kooperation bürgerlich-konservativer Preußeninterpreten mit Hitlers Unrechtsregime" erkennen lasse. Preußen mit der Etablierung der NS-Herrschaft in Verbindung zu bringen, so konstatiert Kroll kühl, müsse unter jene "Fehldeutungen" gezählt werden, denen die Hohenzollernmonarchie in den 500 Jahren ihrer geschichtlichen Existenz immer wieder begegnet sei.

Wolfgang Neugebauer (Hrsg): Das Thema "Preußen" in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Duncker & Humblot, Berlin 2006, broschiert, 373 Seiten, 84 Euro

Bild: Friedrich II. führt im Siebenjährigen Krieg seine Truppen in der Schlacht bei Zorndorf 1758 an (Ausschnitt), Historismus-Gemälde von Carl Röchling, bei Korruption und organisierter Wirtschaftskriminalität 1904: Keine "Affinitäten" zwischen nationalsozialistischen und nationalkonservativen Geschichtsbildern


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen