© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/07 31. August 2007

Zäsur am Bosporus
von Günther Deschner

Die Wahl Abdullah Güls zum elften Staatspräsidenten der Türkei ist eine Zäsur. Erstmals seit Gründung der "modernen Türkei" tritt ein frommer Moslem an die Spitze eines Staates, der sich bis dahin durch einen militanten Säkularismus definierte. Mit Güls Frau zieht auch ihr umstrittenes islamisches Kopftuch in den Präsidentenpalast ein - für viele ein Symbol für den Sieg der Religiösen und ein Indiz für eine schleichende Islamisierung der Politik.

Es stimmt, daß die islamische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) mit Recep Tayyip Erdoğan als Regierungschef und Gül als Staatspräsident nun die beiden wichtigsten Organe der türkischen Politik beherrscht. Doch die bislang vier Jahre der AKP-Regierung liefern keine Hinweise darauf, daß Islam und Demokratie für immer und grundsätzlich unvereinbar sind. Die Politik der "muslimischen Demokratie" hat viel mehr zur Modernisierung der Türkei beigetragen als die Politik der Generäle und der traditionellen Parteien vorher.

Der Machtkampf um Güls Kandidatur hat sogar die Umkehrbarkeit der politischen Positionen gezeigt: Als er sich im April erstmals zur Wahl stellte, waren es gerade die "Hüter der Demokratie", die ungeniert tricksten, selbst mit einem Militärputsch drohten. Man hatte erwartet, Gül würde sich zurückziehen. Statt dessen lud Erdoğan die Türken ein, in Neuwahlen seine bisherige Amtszeit zu beurteilen. Es gefiel den Türken auch, daß Gül sich nicht wegduckte. Und deswegen zieht er nun mit seiner First Lady und ihrem Kopftuch in die Çankaya ein.


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