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37/07 07. September 2007
Insel der Messerstecher Ein Elfjähriger, erschossen in Liverpool auf dem Heimweg vom Fußballtraining, wahrscheinlich als zufälliges Opfer einer Fehde zwischen rivalisierenden Jugendbanden - die Explosion der Straßenkriminalität ist das beherrschende Thema des Sommers in Großbritannien geworden. Bei der Suche nach dem Mörder des Jungen Rhys Jones stoßen die Ermittler auf eine Mauer des Schweigens: Angst vor den allgegenwärtigen Gangs, die das Viertel fest im Griff haben. Und obwohl Großbritannien seit zehn Jahren eines der schärfsten Waffengesetze Europas hat, herrscht an Schußwaffen in den Händen minderjähriger Machos kein Mangel. Terror verbreiten die Unterschicht-Gangs nicht nur mit Pistolen und Gewehren. Alle acht Minuten fand 2006 in England und Wales ein Überfall mit vorgehaltenem Messer statt - 175 Mal am Tag, 64.000 Mal im Jahr. Im Vorjahr waren es 110 derartige Straftaten täglich, 2004 noch 69. Insgesamt hat sich die Zahl der Messerattacken in den letzten zwei Jahren verdoppelt. Mit diesen Zahlen einer Studie des Centre for Crime and Justice Studies (CCJS) am Londoner King's College hatte die konservative Wochenzeitung Sunday Times die Öffentlichkeit aufgewühlt, als die Todesschüsse von Liverpool fielen. Labours Scheitern in der Verbrechensbekämpfung ist Tagesgespräch seit dem Vorabdruck aus der CCJS-Studie, die im September vollständig vorliegen soll, doch eine zentrale Frage wird sorgfältig ausgeblendet: Die Rolle von Einwanderung, Multikulturalismus und Integrationsverweigerung bei der Eskalation der Gewaltkriminalität. Kaum ein Tag vergeht ohne neue Horrormeldungen von Mord, Totschlag und Gewalt auf den Straßen. Das Boulevardblatt Sun sieht die "Nation im Belagerungszustand" und am Rande der Anarchie; die Sunday Times zitiert eine EU-Studie, wonach die Briten im gewalttätigsten aller demokratischen Industriestaaten leben; nirgends in Europa sei die Straßenkriminalität höher, die Wahrscheinlichkeit, in Großbritannien auf offener Straße ausgeraubt zu werden, sei größer als in den USA. Schuld daran, da sind sich konservative Presse und Tory-Opposition einig, ist Labours planlose und aktionistische Ankündigungspolitik, seit Tony Blair vor zehn Jahren vollmundig versprochen hatte, "hart gegen Verbrechen" und deren Ursachen durchzugreifen. Das CCJS hatte bereits im Frühjahr eine vernichtende Bilanz gezogen. Die Regierung flüchtet sich in offizielle Statistiken wie den British Crime Survey, der einen Rückgang der Kriminalität feiert, sich von Fachleuten aber vorrechnen lassen muß, daß wesentliche Verbrechensbereiche ausgeklammert seien, namentlich die Jugendkriminalität - bei der auch Messerdelikte besonders verbreitet sind. In Wirklichkeit liege die Verbrechensrate dreimal höher. Eine vor kurzem abgelaufene "Amnestie" für die straffreie Ablieferung verbotener Stichwaffen, von denen man hunderttausend eingesammelt haben will, hat offenbar ebensowenig bewirkt wie die erst 2006 erfolgte Anhebung des Strafmaßes für das Mitführen gefährlicher Messer von zwei auf vier Jahre Haft. Bei den Tories, die gerade diese Maßnahme maßgeblich angestoßen hatten, greift man die Vorlage dennoch dankbar auf: Die Zunahme der Messerstechereien, schimpft Schatten-Innenminister David Davis, sei ein Symptom des gesellschaftlichen Zusammenbruchs auf den Straßen; die Regierung müsse Alkoholismus, Drogen und zerrüttete Familien in den Griff bekommen. Die jetzt erwogenen Maßnahmen - mehr Sozialarbeiter, noch schärfere Strafen für Messerträger oder Alkoholverbot für unter 21jährige - bewegen sich freilich auf alten Pfaden. Wohl auch, weil die Frage nach möglichen kulturellen, sprich multikulturellen Ursachen tabu ist. Regierungs- und Oppositionspolitiker vermeiden es gleichermaßen sorgsam, diese Frage aufzuwerfen; auch in der politisch korrekten britischen Presse finden sich Antworten allenfalls zwischen den Zeilen. Im Vereinigten Königreich, wo Einwanderer rasch eingebürgert werden und der Multikulturalismus früher und konsequenter als im "alten" Europa politische Richtschnur wurde, schweigt man bei Täterbeschreibungen eisern über ethnische Merkmale. Immerhin ist zu erfahren, daß Messerdelikte vor allem Jugendliche betreffen, als Täter wie als Opfer, und dies vor allem an sozialen Brennpunkten. Die Regierung räumt ein, das Ganze habe mit der überhandnehmenden "gang culture" zu tun, den Jugendbanden also. In Internet-Foren wird der Anstieg der Messerdelikte dagegen schnörkellos mit der steigenden Einwanderung verbunden. Die größten Probleme gebe es nun mal in Städten mit hohem Immigrantenanteil, schreibt "kermit" auf thesite.org, und den meisten Ärger machten junge Schwarze und Pakistani. Sunday Times-Leser "phil" aus Surrey sieht die Polizei in einer "no win"-Situation - Raubüberfälle "at knife point" würden zumindest in London fast ausschließlich von männlichen schwarzen Jugendlichen verübt, aber wenn die Polizei durchgreife und nach Tätern mit diesem Profil suche, werde sie wegen "rassischer Diskriminierung" an den Pranger gestellt. "Auf unserer überfüllten Insel ist nicht genug Platz, und trotzdem läßt unsere Regierung immer noch Hunderttausende herein", schimpft "CA" aus Manchester, und James Roberts meint sarkastisch: "Wir nehmen mit besten Absichten Ausländer auf, und sie danken uns dafür, indem sie die Bevölkerung dieses Landes brutalisieren." Bürger, Medien und Politiker sprechen offenbar auch jenseits des Ärmelkanals nicht dieselbe Sprache. Die Publikationen des CCJS stehen im Internet: www.kcl.ac.uk/depsta/rel/ccjs/ |