© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/07 07. September 2007

Beflügelte Intelligenz
Vogelwelt: Das Gehirn von Raben und Krähen zeigt eine erstaunliche Leistungsfähigkeit / Komplexes Sozialgefüge
Michael Howanietz

Die Denk- und Gedächtnisleistungen von Vögeln enden keineswegs in Weitergabe- und Aufnahmevermögen simpler Informationen. Die Lernfähigkeit von Rabenvögeln etwa wurde in weit anspruchsvolleren Versuchsanordnungen, als sie das Erkennen von Farben, Formen und Zahlen zum Ziel haben, untersucht und nachgewiesen.

Nicht weil die Größe das Maß der Intelligenz festlegt, ist der mit 130 Zentimeter Flügelspannweite und 1,6 Kilogramm Gewicht imposanteste Rabenvogel, der Kolkrabe, der diesbezüglich meistgelobte seiner Familie. Er ist nur eben der meistgeprüfte der Verwandtschaft und vor allem deshalb das Synonym gefiederter Klugheit. Zudem zeichnet ihn seine enorme Anpassungsfähigkeit aus, hat er sich doch unterschiedlichste Lebensräume erschlossen, die von den Eiswüsten der Arktis über die gemäßigten Klimazonen bis zum brandheißen Death Valley reichen.

In menschlicher Gesellschaft zeigt der schwarze Schlaumeier nicht nur Lernfähigkeit, sondern auch Eigensinn. Er hört auf seinen Namen, nicht aber auf Befehl, sondern nach Laune. In freier Wildbahn zeigt er Initiative zu autarkem Handeln ebenso wie die Fähigkeit zu konzertierten Aktionen mit Artgenossen, etwa um einem großen Raubtier (Bär, Luchs, Wolf, Adler) dessen Beute oder wenigstens Teile davon abspenstig zu machen.

Ausführlichst erforscht wurde die kognitive Leistungsfähigkeit des Raben anhand seiner Neigung, Futter zu verstecken. Dieses Verhalten dient nicht nur dazu, Vorräte für die Mangelzeit des Winters anzulegen. Vielmehr handelt es sich um des Versteckens höchste Kunst, bei der alle Eventualitäten berücksichtigt werden müssen.

Zunächst wird der Leckerbissen vergraben, wenn kein Artverwandter zusieht. Sind alsdann ranghöhere Tiere in der Nähe, wendet der rangniedrigere Vogel eine von Schimpansen geläufige Finte an, indem er gezielt an falschen Orten sucht, um die Beobachter in die Irre zu führen. Dem gleichen Zweck dient das mitunter bewußt zur Schau gestellte Anlegen von Scheindepots.

Verwirrung zu stiften, scheint eine überlebensnotwendige Strategie, führt das Konkurrenzverhalten der Raben doch zur gegenseitigen Ausplünderung von Verstecken. Es werden demnach nicht nur eigene und fremde Verstecke gemerkt, sondern auch, wer außer einem selbst noch welches wann von wem angelegte Versteck kennt.

Dieses Verhalten stellt höchste Anforderungen an den Intellekt, gilt es doch, sich in ein Gegenüber zu versetzen, dessen Lage und Pläne zu analysieren und resultierend die eigene Taktik auszutüfteln. Zur Entwicklung dieser Intelligenz tragen maßgeblich die Jugendjahre des Rabenvolkes bei.

Im Umfeld eines lebenslang verbundenen, dominanten Rabenpaares hat halbstarker Vorwitz wenig zu bestellen. Getreu dem Grundsatz: "Geeint sind wir stark!" kommt es zur Bildung von Banden, deren Mitglieder konkurrieren und kooperieren, zusammen fressen, schlafen und Schabernack treiben, Greifvögel ärgern, Wildschweine und Hirsche in den Allerwertesten kneifen oder rücklings über Schneehänge rutschen. Auf Basis individueller Beziehungen entsteht solcherart ein komplexes Sozialgefüge.

Die nicht immer nur eintönig schwarz gefiederte Verwandtschaft steht dem Kolkraben in dieser und anderer Hinsicht kaum nach. Saat- und Rabenkrähen haben nicht nur die Vorzüge von Regenpfützen entdeckt, um darin hartes Gebäck tischfertig aufzuweichen. Sie lassen Nüsse aus angemessener Höhe zu Boden fallen, um die Schalen zu zertrümmern und an den leckeren Inhalt heranzukommen.

In Japan geht man noch einen Vogelflug weiter. Hier trifft man auf Krähen, die harte Samen zu stark befahrenen und unbedingt ampelgeregelten Kreuzungen transportieren. Auf Oberleitung oder Fenstersims Platz genommen, wird die hartschalige Delikatesse auf die Fahrbahn geworfen. Hat ein Auto den Samen überrollt und die Schale geknackt, wird auf "Rot" und damit die zum Auflesen der Mahlzeit erforderliche verkehrsberuhigte Lage gewartet.

In Neukaledonien stellen Krähen aus Palmblättern Stocherwerkzeuge her, mit deren Hilfe sie Insektenlarven aus Holzkerben angeln (ein Verhalten, das auch Darwinfinken auf Galapagos zeigen). In einem Experiment wurden einige Buschhäher an eine Morgenmahlzeit gewöhnt, eine zweite Versuchsgruppe nicht. Von einem überraschend gereichten Abendmahl bewahrten die Frühstückslosen bedeutend mehr auf als die Mitglieder der ersten Gruppe. Man folgerte, daß die Tiere zur Zukunftsplanung befähigt sind.

Schlußendlich wissen sie im Bedarfsfall auch mit Nahrungskonkurrenten zusammenzuarbeiten. So führen Raben in den USA landlebende Raubtiere zu geschwächtem Wild, um hinterher an der Mahlzeit beteiligt zu werden. Eine Symbiose, wie sie auch von Honiganzeiger (einer Kuckucksart) und Honigdachs aus der afrikanischen Savanne bekannt ist.

Der Vogel, scheint es, hat zum Humor auch Verstand. Dieser Verstand sitzt im für die Handlungssteuerung zuständigen Nidopallium caudolaterale, einer Gehirnstruktur, die dem präfrontalen Cortex, dem für Verhaltenssteuerung, Planung und Selbstkontrolle verantwortlichen Bereich der Großhirnrinde entspricht, über den Säugetiere und Mensch verfügen. Wo aber ihr Sitz ist, ist mutmaßlich auch Intelligenz.


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