© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/07 07. September 2007

Schmerzliche Erinnerungen
Von dem Mythos ist nichts geblieben: Impressionen von einem Spaziergang durch Kolberg
Wiebke Dethlefs

Von allen pommerschen Städten östlich der Oder ist Kolberg neben Stettin die bekannteste. Doch beruht diese Bekanntheit fast ausschließlich auf dem Bewußtsein um ihre Rolle in den Napoleonischen Kriegen und insbesondere darauf, daß die Stadt ihren Namen einem zwar nicht mehr gezeigten, aber fast zur Legende gewordenen "Durchhaltefilm" der NS-Ära gab, der sich auf den Mythos der Unbesiegbarkeit der Stadt während der französischen Belagerung 1807 bezog. Doch demgegenüber existiert bei den meisten Zeitgenossen kaum eine Kenntnis des Kolberg von heute, besteht kaum Wissen über Kolobrzeg, wie Kolberg seit Kriegsende heißt. Und das, obwohl es nur knapp 280 Kilometer nordöstlich von Berlin gelegen ist.

Nach der schrecklichsten Zäsur im März 1945 - während eines furchtbaren Belagerungskampfes versanken über 90 Prozent der Stadt in Trümmer - erfolgte der Wiederaufbau der toten Stadt nur langsam. Erst allmählich wurde der Kur- und Badebetrieb wieder aufgenommen. Zahllose Betriebsferienheime und Sanatorien wurden errichtet. 1971 entstand eine 220 Meter lange Seebrücke. Doch war in der sozialistischen Epoche keineswegs jene einzigartige, des alten Kolberg Wesen bezeichnende Symbiose aus See, Sole, Moor und Wald wiederhergestellt. Erst innerhalb der letzten zehn Jahre konnte Kolobrzeg an das mondäne Kolberg der Vorkriegszeit wieder anknüpfen.

Heute ist die Stadt der größte polnische Seekurort mit einer umfassend entwickelten Infrastruktur. Ein Gang durch die Stadt birgt vielleicht deshalb angenehme Empfindungen, ruft aber deutschen Besuchern auch um so schmerzlicher die Katastrophe des März 1945 in Erinnerung. Denn bis auf den wiederaufgebauten Dom und das damals unbeschädigt gebliebene Rathaus ist im Zentrum annähernd nichts mehr von der alten Bebauung vorhanden.

Glücklicherweise sind in den letzten fünfzehn Jahren alle Baulücken in der ehemaligen Altstadt (heute Starowka genannt) geschlossen worden, wodurch die Stadt zumindest ihre Mitte wiedererhalten hat. Doch ist diese Mitte in den sechziger Jahren im Norden, Osten und Süden von bis zu zwanzigstöckigen Plattenhäusern umbaut worden, womit dem Dom als einzig noch vorhandenem Teil der Stadtsilhouette die visuelle Fernwirkung genommen ist.

Der östliche Teil der Altstadt, einst Lauenburger Vorstadt genannt, ist nicht wiedererkennbar, da hier die Durchgangsstraße Treptow/Rega-Kolberg-Köslin eine breite Schneise geschlagen hat, der weite Teile des ursprünglichen Straßennetzes zum Opfer gefallen sind. Auch hier läßt sich so gut wie kein Bau aus der Zeit vor 1945 ausmachen.

Von dieser Straße biegt man nordwärts entlang des westlichen Persanteufers ab, um das Zentrum zu erreichen. Unübersehbar beherrscht das gewaltige Westwerk des Mariendoms die Szenerie.

Am beeindruckendsten ist der Blick auf den Dom aus der Katedralna, der früheren Domgasse. Lange standen nach der Zerstörung die Türme ohne die drei Spitzen, erst 1985 wurden sie wieder aufgesetzt. An der Nordwestecke erinnert ein Denkmal an die Gründung des Bistums Kolberg vor tausend Jahren. Überwältigend ist das Innere der Kathedrale. Trotz aller Zerstörungsgewalt blieben die Außenmauern und die Pfeiler stehen. Sie sind sehr schief und neigten sich durch Absenkung des Untergrunds bereits kurze Zeit nach der Vollendung des Baus in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts.

Die Schlieffenkrone, gestiftet 1523 von der gleichnamigen Patrizierfamilie, ist ein prachtvoll gearbeiteter hölzerner Kronleuchter mit der Figur Mariens und Johannes des Täufers und wird bekrönt von einem lichtblauen Baldachin - neben dem geheimnisvollen siebenarmigen Leuchter von 1327 das bedeutendste Kunstwerk im Inneren der Kirche. 1945 versteckte Pfarrer Paul Hinz diese und andere Kunstgegenstände in der Krypta des Domes in Sicherheit, wo sie erst Jahre später wiederentdeckt wurden.

Sämtliche Häuser in den Gassen der ehemaligen historischen Altstadt sind neu errichtet - erbaut in jenem seltsamen Stil, der sich durch ungewöhnliche Erker und Giebel sowie teils auch durch Fachwerkelemente auszeichnet, wobei ein fast folkloristischer Ton erreicht wird. Schmiedeeiserne Balkongeländer erinnern dabei oft an ähnliche Formen des Mittelmeerraums. Drei besondere Kleinode an Bürgerhäusern des 16. Jahrhunderts gibt es leider nicht mehr: das berühmte Merkurhaus, das einst in keinem Buch über die Renaissancebaukunst in Norddeutschland fehlte, wie auch das Haus des Bürgermeisters Nettelbeck und das Schlieffenhaus. Sie wurden im März 1945 vernichtet.

Am unteren Ende der Schlieffenstraße (heute Ul. Gierczaka) ist ein gotisches Patrizierhaus noch vorhanden, das nach seiner Zerstörung originalgetreu wiederaufgebaut wurde. In ihm ist ein Teil des polnischen Waffenmuseums untergebracht, das - ein seltsamer Anblick - gleich daneben auf einer großen Freifläche Raketenwerfer, Panzer und weitere Militärfahrzeuge präsentiert.

Das neugotische Rathaus überstand die Katastrophe 1945 einigermaßen unbeschädigt. Um das Rathaus herum sind vier- bis fünfstöckige neue Geschäftshäuser und Einkaufszentren entstanden. Hier schlägt das merkantile Herz Kolobrzegs. Zwar ist der Rathausplatz für den Durchgangsverkehr gesperrt, aber vielleicht gerade deswegen laden Cafés, Restaurants und eine kleine Parkanlage zum Verweilen ein.

Zwei Querstraßen hinter dem Rathaus ist bereits das Ende der mittelalterlichen Stadt erreicht. Hier steht etwas verloren der letzte Rest der alten Stadtbefestigung, der sogenannte Pulverturm. Die große anschließende Grünanlage ist der ehemalige Preußenplatz, der nur noch an seiner Westseite die alte Bebauung zeigt. Hinter ihm beginnt gleich wieder der Wall mehrstöckiger Plattenwohntürme, der die Altstadt umsäumt.

In der ehemaligen Posener Straße, die nördlich am Dom vorbeiläuft (heute Ul. Armii Krajowei), ist das zweistöckige Renaissancehaus des Heimatmuseums wiederaufgebaut worden und dient heute wie ehedem diesem Zweck. Leider wird der Blick auf den Dom von dieser Straße aus durch einen abscheulichen Flachbau sozialistischer Provenienz erheblich gestört. Hinter der kleinen Grünanlage gegenüber verläuft die frühere Schmiedestraße (Ul. Dubois). Sie besitzt an ihrer Nordseite noch die alte Bebauung und läßt etwas vom Aussehen des alten Kolberg erahnen. Eine Vielzahl kleiner individueller Läden und Cafés verleiht dieser Gegend einen eigentümlichen Zauber.

Wie schon vor 1945 ist auch heute das Kurviertel von der eigentlichen Innenstadt durch den Bahnhof und seine Gleisanlagen getrennt und zeigt deshalb eigene Wesenszüge. Auch hier ist nichts von der Altbebauung, den Villen erhalten geblieben; besonders zu bedauern ist der Verlust des Kurhauses "Strandschloß", das durch ein gesichtsloses Plattenhotel ersetzt wurde. In dessen Nähe findet sich das an das Kieler Marine-Ehrenmal erinnernde "Vermählungsdenkmal" Polens mit dem Meer. Zahlreiche Hotels, meist ehemalige Betriebsferienheime, sind hier ostwärts bis zur ehemaligen Waldenfels-Schanze neu errichtet.

Doch wie überall in der Stadt ist auch hier nichts mehr von den alten Festungsanlagen auszumachen, da sie bereits im 19. Jahrhundert geschleift wurden. Das Fort Münde bewachte die Persantemündung. Auf seinen Fundamenten ist eine Lotsenstation und ein Leuchtturm errichtet worden, wobei der jetzige Leuchtturm nach 1945 im alten Stil neu erbaut wurde. Von hier überblickt man den Hafen, der vor 1990 auch ein bedeutender Verladehafen war, jetzt aber überwiegend ein Yachthafen ist und zu einem gewissen Teil auch vom Militär genutzt wird. Um den Leuchtturm herum ist ein kleiner Friedhof errichtet. Hier ruhen polnische und sowjetische Soldaten, die im März 1945 gefallen sind. Kleine Fischrestaurants und Läden in der Umgebung des Leuchtturms laden zur Einkehr und zum Flanieren ein.

Kolbergs Historie, auch die des Jahres 1945, wird in den offiziellen polnischen Reisebüchern heute objektiv geschildert. Der Film "Kolberg" bleibt unerwähnt und ist auch bei den Bewohnern der Stadt unbekannt. Das heutige Kolobrzeg verleugnet aber keineswegs die fast siebenhundertjährige deutsche Stadtgeschichte. Aber es bedarf auch eines Interesses der Deutschen an der Stadt, an einem Besuch in ihr, damit diese lange Geschichte auch bei uns lebendig und im Bewußtsein bleibt.

Fotos: Die frühere Schmiedestraße im Stadtzentrum von Kolberg: Die Stadt hat ihre Mitte wieder; Gedenkkreuz zur Erinnerung an die Gründung des Bistums Kolberg, Mariendom: Überwältigend


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