© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/07 14. September 2007

Westerwelle kämpft um jede Stimme
Parteien: Der FDP-Vorsitzende hadert mit den aktuellen Umfragewerten / Beobachtungen auf der Internationalen Funkausstellung
Markus Schleusener

Was habe ich bloß falsch gemacht?" fragt sich Guido Westerwelle, wenn er dieser Tage auf die Umfragewerte seiner Partei schaut. Der Oppositionsführer im Deutschen Bundestag läßt sich offiziell nichts anmerken, aber insgeheim hatte er sich mehr ausgerechnet. Keines der bekannten Umfrageinstitute sieht seine Partei derzeit noch als drittstärkste Kraft (das sind jetzt die Linken). Bei Forsa liegt die FDP (mit neun Prozent) gar auf dem fünften Platz - hinter den Grünen.

Ist Westerwelle wieder auf dem Weg zum Leichtmatrosen der deutschen Politik? 2001 war er schon mal ganz oben: Mit Jürgen W. Möllemann verjagte er Wolfgang Gerhardt von der Parteispitze, setzte auf das "Projekt 18". Im Wahljahr 2002 lösten sich diese hochfliegenden Pläne in Nichts auf. Erst 2005 kam der wirkliche Durchbruch Westerwelles, auf den er so lange hingearbeitet hat. Die bürgerlichen Wähler wollten Merkel nicht und ihre Steuererhöhungspolitik erst recht nicht. Also flohen sie kurzentschlossen in Scharen zur FDP und bescherten Westerwelle ein Traumergebnis. Der Siegestaumel ist Vergangenheit. Jetzt muß Westerwelle wieder kämpfen.

An einem Vormittag in der vergangenen Woche halten vor der Halle 2 der Berliner Messe die beiden Staatskarossen des FDP-Chefs. Westerwelle, der im vorderen Wagen sitzt, steigt als letzter nach seinen fünf Leibwächtern aus. Er wird bereits von ARD-Mitarbeitern erwartet. Der Parteivorsitzende zieht sich sein Sakko über. "Los geht's", murmelt er und prescht nach vorn, rein in die Halle. Es ist 11.49 Uhr, als er das ARD-Studio auf der Internationalen Funkausstellung (Ifa) betritt. Sofort verschwindet Westerwelle im Vip-Raum. Draußen quatscht unterdessen ein Moderator die einhundert Gäste der Live-Sendung voll. "Ich hab' hier so einen kleinen Mann", sagt er und zeigt auf sein Ohr. Der kleine Mann unterrichtet ihn darüber, wann  was gesendet wird, sagt der Moderator. Zuerst kommen die ZDF-Nachrichten. "Mal sehen, was Hansi Fischer so zu sagen hat", kichert der Moderator.

Er meint Hannelore Fischer, die ZDF-Nachrichtensprecherin. Niemand lacht über seinen Witz. In den Mittagsnachrichten geht es dann um den Abzug der Briten aus Basra, um den Jahrestag der Geiselnahme von Beslan und um Gefechte im Libanon. Danach um Wirtschaft und Gammelfleisch.  Im Anschluß endlich kommt die neue ARD-Sendung "Ihre Fragen nach Berlin". Über das Internet können Bürger den Politikern Fragen stellen. Heute geht so etwas per "Webcam" oder Handykamera: Der Frager sendet einen Kurzfilm an die ARD, die den Film ausstrahlt und live den Politiker dazu befragt. Am Morgen war bereits der SPD-Vorsitzende Kurt Beck im Kreuzverhör des ARD-Frühstücksfernsehens. Und jetzt folgt Westerwelle.

Nach der Bundestagwahl 2005 surfte seine FDP monatelang auf einer Welle der Sympathie. Je unzufriedener die Deutschen mit der Großen Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel wurden, desto besser standen die Liberalen da. Aber Parteipolitik in Deutschland funktioniert seit Jahren nach dem Prinzip kommunizierender Röhren: Schwache FDP, starke Union - und umgekehrt. Ebenso ist es bei Rot-Grün und der Linkspartei. Jetzt ist gerade wieder die Union stark, und das macht die FDP schwach.

Westerwelle steht eingerahmt zwischen dem WDR-Chefredaktuer Jörg Schönenborn und seinem Kollegen vom Bayerischen Rundfunk, Sigmund Gottlieb. Der Bayer sagt, das neue Format sei "klar und ungeschminkt", "unser Pilotversuch gegen die  Politikverdrossenheit".

Westerwelle seinerseits hofft natürlich auf Fragen zu Basra, Beslan oder Libanon, so wie eben in den Nachrichten - schließlich will er ja mal Außenminister werden. Aber der erste Zuschauer hat etwas anders im Sinn. Er schimpft auf rechte Parteien und auf  Westerwelle gleich mit. "Die FDP hält nichts von einem neuen Verbotsverfahren gegen die NPD", sagt der Mann in die Kamera.

Das Thema brennt ihm richtig unter den Nägeln, ebenso wie offensichtlich den ARD-Redakteuren, die diese Frage unter Tausenden von Videos ausgewählt haben. Westerwelle verzieht seine Miene. Er muß sich sein Lächeln abquälen. Statt Basra, Beslan und Libanon hat er eine echte Gammelfleisch-Frage abbekommen.

"Ich finde, daß man Parteien, die extreme Gedanken vertreten, links- oder rechtsaußen, bekämpfen muß", sagt der FDP-Vorsitzende pflichtgemäß. "Nur das Verfassungsgericht entscheidet darüber", belehrt er seinen Gesprächspartner - und versucht ihn sofort zu beschwichtigen: "Wir würden vielleicht wieder scheitern. Das gäbe dann einen Persilschein." Und den Ärger über die NPD, den "kann ich natürlich gut verstehen".

Die nächste Frage von Thomas Zimmermann ist schon schwieriger für Westerwelle. Sie ist wie das nächste "Level", die nächste Ebene in einem Computerspiel, nicht mehr so einfach zu beantworten wie die Frage nach der Computerüberwachung.

"Wie stehen Sie zum Raucherschutz?" fragt Zimmermann. Jetzt gilt es vorsichtig zu sein! Westerwelle will die Raucher gewinnen, ohne die zahlenmäßig dominierenden Nichtraucher zu verschrecken. "Ganz schwere Sache. Ich finde, ein bißchen Rücksichtnahme hätt's auch getan", antwortet er. "Wie viele Kinder bei den Eltern mitrauchen, das wird immer vergessen. Und da hilft kein Gesetz der Welt."

Jetzt kommen die harten Brocken, die Gottlieb mit sorgenvoller Miene als "Thema Nummer eins, die soziale Fragen" ankündigt: Ein Mann fragt, ob "die soziale Marktwirtschaft am Ende ist", weil es Menschen gibt, die mit fünf Euro am Tag auskommen müssen. Westerwelle antwortet mit seinem Leitsatz, den er seit Jahren auf den Lippen führt: "Wir müssen die Schwachen vor den Faulen schützen."

Aber der Kirchhof-Schock ist auch an ihm nicht vorbeigegangen. Bei der nächsten Frage glaubt Westerwelle seine "neoliberale" Haltung nicht mehr durchhalten zu können. Eine adrette Dame vor dem Reichstag fragt: Warum wird die Rente so wenig erhöht, wo doch alle anderen Kosten ständig steigen? An dieser Stelle entscheidet sich Westerwelle dagegen, der potentiellen FDP-Wählerin reinen Wein einzuschenken. Er könnte sagen: Die Renten können nicht mehr steigen, sondern werden sinken müssen, weil es immer weniger Einzahler und immer mehr Empfänger gibt.

Guido Westerwelle gibt lieber eine typische Politikerantwort: "Das liegt daran, daß die Renten gekoppelt sind an die Löhne." Und weiter: "Wenn die Löhne stiegen, dann werden wir auch erleben, daß die Rente steigt, dann gibt es gute Chancen für die Bildung, dann gibt es gute Kultur."

Das hört sich sehr nach Oskar Lafontaine und Linkspartei an: Es muß nur das und das passieren, dann ist alles wieder bezahlbar. Dabei kennt Westerwelle die Wahrheit: Wenn immer weniger in das System einzahlen und immer mehr bekommen, dann spielen die Faktoren Lohnentwicklung und Wirtschaftswachstum eine untergeordnete Rolle. Dann fällt das Rentenversicherungssystem wie ein Kartenhaus zusammen.

Aber die Wahrheit schmeckt bitter. Also packt der FDP-Chef seine Kritik in Watte. Der Zuhörerin sollen die Schlagworte "gute Kultur, gute Bildung und höhere Renten" aus dem Munde Westerwelles im Gedächtnis bleiben.

Ist das derselbe Mann, der den Satz "Deutschland steht am Ende des Verteilungsstaates" zu seinem politischen Credo gemacht hat? Am nächsten Tag läßt er dann auch noch seinen Generalsekretär erklären, die Sozialpolitik sei wichtig. Dirk Niebel sagt dem ARD-Morgenmagazin, der "Aufschwung muß bei den Menschen ankommen". Was immer er damit meint.

Auf der Ifa wird der Studiogast Westerwelle von Gottlieb und Schönenborn verabschiedet. "Danke, daß Sie sich den Fragen gestellt haben", sagt einer der Moderatoren zum Abschied. Guido Westerwelle strahlt. Er dreht sich nach rechts und verschwindet aus dem Studio.  Er muß jetzt seinen Standpunkt zur anstehenden Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes ausarbeiten. Das macht ja auch mehr Spaß als "Nazis", Renten und Gammelfleisch.

Foto: Gottlieb, Westerwelle, Schönenborn (v.l.n.r.) auf der Funkausstellung in Berlin: "Unser Pilotversuch gegen Politikverdrossenheit"


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