© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/07 05. Oktober 2007

Pankraz,
Cervus elaphus und das Röhren im Wald

Jetzt röhren sie wieder. Die brünstigen und einander bekämpfenden Rothirschbullen nämlich, und unsere herbstlichen Wälder werden dadurch nicht aufhaltsamer, nicht einmal interessanter. Auf die Gefahr hin, sich bei manchem seiner Leser gründlich unbeliebt zu machen, behauptet Pankraz: Der röhrende Rothirsch ist eine der problematischsten Tierfiguren überhaupt. Alles an ihm wirkt aufgedonnert, ja lächerlich.

Schon im Normalzustand ist die männliche Ausgabe des europäischen Rothirschs (Cervus elaphus) keine überzeugende Erscheinung. Im Gegensatz zu den weiblichen Schmal- und Alttieren mit ihren schönen Augen und feinen Hälsen ermangelt der Bulle jeglicher Eleganz oder freien Heldengestalt. Sein Blick ist entweder stumpfsinnig-gleichgültig oder über alle Maßen dümmlich-arrogant, ein Mittelding gibt es nicht. Sein Körperbau besitzt weder die Urgewalt des Rinderbullen noch die schlanke Anmut des Rehbocks; es ist, als habe die Natur hier nur das Allernotwendigste getan, um etwas Routinemäßiges auf vier Beine zu stellen.

Kommt aber nun die Brunftzeit, setzt nun das herbstliche Röhren ein, so steigert sich die Verlegenheit zur vollsten Misere. Verglichen mit dem Röhren der Rothirsche klingt selbst das Quaken der Teichfrösche wie himmlische Sphärenmusik. Das Röhren ist geradezu der Inbegriff von Unmusikalität. Kein Naturfreund erwartet ja von den "Platzhaltern" melodiöse Nachtigallenschläge, indes, es dürfte doch wenigstens ein machtvolles Brüllen im Stil von Löwen oder Brüllaffen sein. Aber nichts davon.

Das Röhren, wie es zur Zeit unsere Wälder durchzieht, ist vielmehr ein überdimensionales Röcheln, so als habe ein Riese einen Kloß im Hals, den er unfreiwillig hin und her wälzt. Es will heraus und kann doch nicht richtig heraus, es ist weder Gesang noch Gebrüll noch Trommelschlag, kein triumphierendes Platzhalterlied, sondern eine Drohung, eine Geräusch gewordene, freilich nie recht gelingende Drohgebärde, welche Konkurrenten vom "eigenen" Rudel fernhalten soll.  Hier gibt's nichts Edles, hier will einer einfach in Ruhe gelassen werden, mehr ist nicht.

Manche Waldspaziergänger halten das Hirschröhren irrtümlich für Liebeswerben, sind gerührt und neigen deshalb dazu, über sein lautliches Mißlingen milde hinwegzuhören. Aber um  Liebeswerben handelt es sich gerade nicht. Die Schmaltiere werden nicht durch das Röhren in Stimmung gebracht, sondern durch den Geruch, den der Bulle ausströmt, durch seinen Pinkelgeruch. Er scharrt sich Erdwannen auf, pinkelt hinein und badet regelrecht in dem Seich, parfümiert sich mit ihm über und über und wird dadurch sexuell attraktiv. So ist das nun mal im höheren Tierreich.

Was aber das Röhren betrifft, so gilt es nicht dem Rudel, sondern einzig dem Konkurrenten. Es will abschrecken, es will den Kampf vermeiden. Natürlich kommt es trotzdem zum Kampf - und da nun passiert das, was auch heikle, Pinkelgeruch abgeneigte Naturfreunde offenbar tief fasziniert und über alle Mißtöne und Mißgerüche von Cervus elaphus gnädig hinwegsehen läßt: das "Turnier der Giganten" beginnt, Geweih gegen Geweih, der Kampf der Geweihträger.

Ja, in unseren eurasischen Wäldern finden alljährlich im Herbst die wohl erstaunlichsten Ritterturniere statt, die es im Reich des Lebendigen noch gibt, und es sind Geweihturniere. Erstaunlich sind sie nicht so sehr wegen ihrer Wut und Insistenz (dergleichen gibt es beispielsweise bei den See-Elefanten auch), sondern wegen des ungeheuren Prunks der Waffen, den die Natur hier entfaltet hat. Das voll ausgebildete Rothirschgeweih ist eine Einmaligkeit der Natur jenseits aller Nützlichkeiten und Lebenserfordernisse, eine Art Überrüstung, wie sie sonst nur noch in der heutigen Rüstungsindustrie der USA vorkommt.

Im Gegensatz zu den Rüstungsindustriellen hat der Platzhirsch aber kaum etwas von seiner Überrüstung. Die junge Konkurrenz, die ihm das Rudel streitig macht, zählt gewiß nicht die Anzahl der Spitzen an seinem Geweih, sondern forkelt frisch drauflos, und dabei zählen nicht Geweihspitzen, sondern rohe Körperkräfte. Man betrachte die Gesamterscheinung etwa eines mittel- oder ostmitteleuropäischen Zweiundzwanzigenders, also eines Platzhirschs, wie er im Buche steht: Das Verhältnis zwischen Körpergröße und Geweihaufbau bei ihm sieht schon verdächtig nach Mißverhältnis aus. Das Geweih ist gewissermaßen nur noch l'art pour l'art.

Fast könnte man an einen Irrtum, an eine Sackgasse der Evolution glauben. Tatsächlich hat es solche Sackgassen in der Naturgeschichte immer wieder gegeben, speziell bei den Hirschen und Hirschartigen. Für das jüngere Pleistozän (vor der großen Eiszeit) ist durch zahlreiche Funde Megaloceros giganteus bezeugt, ein an sich sehr hübsches Tier, das aussah wie ein Rehkitz von Elchgröße, allerdings ein Riesengeweih von gut dreieinhalb Metern Spannweite mit sich herumschleppte. Mit diesem Geweih, sagen die Paläontologen, sei es überall hängengeblieben und unter ihm schließlich buchstäblich zusammengebrochen und ausgestorben.

Daß auch der eurasische Rothirsch ausstirbt, ist freilich so bald nicht zu befürchten. Der Mensch hat sich seiner bevorzugt angenommen, ihn hier und da bereits in einen halb haustierartigen Status verbracht, und zwar vor allem seines Geweihs wegen. Denn dieses erinnert uns an ritterliche Turnierzeiten, gilt als Symbol für Mut und Manneskraft, faktisch jeder Hobbyjäger oder höhere Staatsgast sehnt sich nach dem Abschuß eines Zweiundzwanzig-, mindestens eines Sechzehnenders.

So erfindet man raffinierte Hormone, die man dem Futter in den Winterkrippen für die Hirschrudel beimischt, um die Geweihe der Bullen ausladender und spitzenhaltiger zu gestalten  - ein Umstand, der die Sympathie für den Rothirsch nicht unbedingt anspornt. Man spaziert im Walde für sich hin, hört dem Röhren der Hirschbullen zu und denkt dabei nicht mehr nur an anstößig duftenden Seich for Sex, sondern auch an Lebensmittelchemie und deren eventuell merkwürdige Folgen.


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