© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/07 12. Oktober 2007

Von der Wiege bis ins Grab
Glücklich, wer sich nicht selbst verarzten muß: Mit "Sicko" will Michael Moore sich über Publikumsgrenzen hinweg Gehör verschaffen
Silke Lührmann

Gewiß, man kann Michael Moore Populismus vorwerfen - man kann auch monieren, daß der Papst seinen Glauben allzu penetrant öffentlich zur Schau stellt. Mithin geht die zuletzt von Debbie Melnyk und Rick Caine erhobene Kritik, Moore versuche "Dissens herzustellen", so sehr ins Leere, wie sie den Kern der Sache trifft. Ja, genau dies ist sein Anliegen, wenn er polemisiert, provoziert und polarisiert, was das Zeug hält!

Diesmal hat Moore sich auf das eingeschossen, was sich in den USA Gesundheitswesen schimpft und diesseits des Atlantik bisweilen als Vorbild für einschlägige Reformen gepriesen wird. "Sicko" handelt, wie Moore eingangs betont, von jenen glücklichen 85 Prozent der Amerikaner, die überhaupt die Aufnahmekriterien der privaten Krankenkassen erfüllen. Die übrigen 50 Millionen finden - Google sei Dank - im Internet detaillierte Anleitungen zur Selbstverarztung vom Knochenbruch bis zu chirurgischen Eingriffen.

Neben zahlreichen Leidensgeschichten kommen auch Täter zu Wort: Büttel der Versicherungsunternehmen wie eine Ärztin, die möglichst vielen Antragstellern lebensnotwendige Operationen verweigerte, um ihrem Arbeitgeber Geld zu sparen und als erfolgreiche "medizinische Direktorin" Prämien einzukassieren. Ihr Kollege durchforstet indes die Vorgeschichte der Patienten nach Vorwänden, die Kostenerstattung für bereits genehmigte Behandlungen nachträglich zu verweigern. Aus der Gruft der Archive wird Präsident Richard Nixon heraufbeschworen, der das Profitmotiv als Maxime des Gesundheitswesens seinerzeit ausdrücklich guthieß.

Den amerikanischen Lieblingsmythos vom Selbstversorger, dem der bloße Gedanke an staatliche Leistungen abscheulich ist, entkräftet Moore mit dem Hinweis auf Schulwesen, Postdienst und öffentliche Bibliotheken als Propaganda. Deren unmittelbare Nutznießer und Urheber sind Versicherungs- und Pharmakonzerne. Im weiteren Sinn aber ist der zur Staatsräson erhobene Kapitalismus schuld: Ohne sonderlich paranoid zu klingen, sieht Moore eine allumfassende Verschwörung der Mächtigen am Werk. Denn hochverschuldete Arbeitnehmer, die sich nicht leisten können, einen ihrer zwei bis drei Jobs zu verlieren, taugen vortrefflich zur Humanressource.

Kongreßabgeordnete und Regierungsmitglieder werden von den Konzernen geschmiert, wie Moore zwar nicht nachweist, aber so nachdrücklich behauptet, daß ihm eine gewaltige Prozeßlawine ins Haus stünde, wenn seine Zahlen völlig willkürlich aus der Luft gegriffen wären. Und was sich zunächst als Wahlkampfwerbung für Hillary Clinton anläßt, nimmt schnell ein böses Ende: Aus der engagierten Präsidentengattin sei längst eine weitere Söldnerin der Privatwirtschaft geworden.

Daß westeuropäische Regierungen ihre Bürger nicht im selben Maß von der Wiege bis ins Grab ökonomischen Interessen ausliefern, erklärt Moore mit einer stärkeren Protestkultur etwa in Frankreich. Nach massiven Unmutskundgebungen des Volkes gegen Einsparungen im öffentlichen Gesundheitswesen fielen dort 2004 die Sanierungsmaßnahmen sehr viel weniger drastisch aus als befürchtet. Ein Euro Praxisgebühr, Überweisungspflicht für Facharztbesuche, obligatorische elektronische Patientenakte sind verschmerzbar, Moores Landsleute des Lobes voll für die steuerfinanzierte Rundumversorgung in ihrer französischen Wahlheimat.

Als intellektuelles Schmankerl für alle diejenigen, die dem Klamauk seiner plumpen Bildsprache mißtrauen, den Trickfilmchen und Pfeildiagrammen, mit denen Moore seine simplen Botschaften weniger vermittelt als eintrichtert, bietet er den ehemaligen britischen Industrieminister Tony Benn auf. Das Labour-Urgestein aus jenen Jahren, bevor Tony Blairs Regierung den Privatisierungswahn als "dritten Weg" vermarktete, hält - leidenschaftlich vernünftig und das Herz am linken Fleck wie immer - ein Plädoyer für die revolutionären Errungenschaften der Demokratie. Sein Vertrauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführte staatliche Gesundheitsfürsorge sei längst so unantastbar wie das Frauenwahlrecht, klingt freilich angesichts des seit Margaret Thatcher daran betriebenen Raubbaus reichlich optimistisch. Für Sehhilfen und Zahnbehandlungen etwa müssen die Briten in die eigene Tasche greifen, Krankenhäuser sind unterfinanziert, Wartelisten lang.

Die vielbeschworene Zivilgesellschaft schneidet im Vergleich mit der Solidargemeinschaft jedenfalls erbärmlich ab. Auf der Suche nach überzeugenderen Modellen begleitet Moore einen Pariser Notarzt bei nächtlichen Hausbesuchen und - in einer der spektakulärsten Aktionen seiner bisherigen Laufbahn als öffentliches Ärgernis - eine Bootladung vergessener 9/11-Helden nach Kuba: zunächst zum US-Stützpunkt Guantánamo Bay, wo ihnen die geforderte "medizinische Fürsorge auf demselben Niveau, wie sie die al-Qaida erhält", abgeschlagen wird. In Havanna dagegen werden sie - auch das Castro-Regime ist der Propaganda nicht ganz abhold - mit offenen Armen empfangen und erstklassig verarztet.

Die Landpartie nach Baja California, wo sich US-Bürger nicht nur Infektionen des Magen-Darm-Trakts und der Geschlechtsorgane, sondern auch billige Medikamente zu holen pflegen, läßt Moore aus. Dafür treibt er in seiner weitläufigen Bekannt- und Verwandtschaft reichlich Kronzeugen für die Vorzüge der verstaatlichten Gesundheitsfürsorge im nördlichen Nachbarland auf, das bereits in "Bowling for Columbine" (2002) als das bessere Amerika herhalten mußte. Um in deren Genuß zu kommen, ist eine krebskranke junge Frau sogar zur Scheinehe mit einem Kanadier bereit. Derweil wagen Moores Onkel und Tante keinen Tagesausflug in die USA, ohne zuvor eine Reiseversicherung abzuschließen. Ein passionierter Golfspieler erzählt aus bitterer Erfahrung, warum solcher Leichtsinn in der Tat lebensgefährlich wäre.

Das alles ist - in bewährter Moore-Manier - höchst amüsant, zutiefst deprimierend und womöglich durchaus geeignet, ihm über parteipolitische Grenzen und soziokulturelle Präferenzen hinweg auch außerhalb seines üblichen Einzugsgebietes im linksliberalen College-Milieu Gehör zu verschaffen.

Fotos: Der Dokumentarfilm "Manufacturing Dissent" von Debbie Melnyk und Rick Caine, der Moores Methoden kritisch beleuchtet, ist ab dem 9. November auf DVD erhältlich und wird in einer der kommenden JF-Ausgaben besprochen., Junge Eltern verlassen ein britisches Krankenhaus: Für die Entbindung kamen die Steuerzahler auf, "Sicko"-Filmplakat; Michael Moore (mit Megaphon) auf dem Weg nach Guantánamo


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