© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/07 12. Oktober 2007

Kein Jahrhundertleben
Helmuth Kiesels Biographie über Ernst Jünger nimmt sich deutlich zuviel vor
Alexander Pschera

Gute Bücher haben, gleichsam als conditio sine qua non, eine doppelte Notwendigkeit: eine äußere sowie eine innere. Die äußere Notwendigkeit ergibt sich, zumindest bei Sachbüchern, aus dem Wissens- und Erkenntnisstand zu dieser Sache selbst. Die innere Notwendigkeit läßt sich nicht vergleichbar objektivieren. Sie zeigt sich an den Spuren von Authentizität und Charisma, die gute Bücher eben per definitionem an sich tragen.

Helmuth Kiesels etwa 700 Seiten starke Jünger-Biographie - die weder "eine" noch gar, wie ihr Untertitel suggeriert - "die" Jünger-Biographie ist, weil nicht das Leben, sondern das Werk Jüngers ihr Thema darstellt, ist aus dem Blickwinkel des Notwendigen doppelt problematisch. Freilich, es nähert sich Jüngers zehnter Todestag. Freilich, seit Martin Meyers Werkmonographie (1990) und Paul Noacks hagiographischer Biographie (1998) ist keine größere Überblicksarbeit mehr über Jünger erschienen. Und freilich, die seitdem veröffentlichten Briefwechsel, der Nachlaß in Marbach und zahlreiche Spezialstudien harren noch ihrer bündelnden Zusammenfassung. Für "die" Biographie zu Jünger besteht fraglos eine äußere Notwendigkeit. Es steht jedoch außer Zweifel, daß Kiesels diese Lücke nicht füllen kann. Hierfür fehlt ihm die innere Notwendigkeit. Denn man kann sich bei der Lektüre des Eindrucks nicht erwehren, Kiesel wollte gar keine Biographie schreiben.

Mißt man das Buch an seinem Anspruch, so fällt die Bilanz spärlich aus. Sucht man jedoch den gedanklichen Kern des Buches, von dem aus der Autor wahrscheinlich seine Motivation zieht, sieht die Sache etwas anders aus. Beginnen wir also mit diesen positiven Aspekten. Kiesel schaut durch die Brille des ideengeschichtlich ausgerichteten Germanisten auf das Individuum Jünger. Ihm geht es vor allem darum, Jünger zu normalisieren, ihn als modernen Autor neben Brecht, Mann und Döblin zu kanonisieren und dadurch den Weg zu bereiten für eine gerechte Wahrnehmung, die, so kann Kiesel an vielen Details aufzeigen, durch zahlreiche Rezeptionsmißverständnisse oder schlichte Unwissenheit bewußt oder unbewußt verstellt ist.

Diese Rehabilitierung Jüngers zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Kiesel zeigt, um nur einige Beispiele zu nennen, daß Jünger, der "Kriegsmutwillige", nicht mit Hurra-Patriotismus und nationalistischer Gesinnung in den Ersten Weltkrieg zog. Er weist darauf hin, daß man, um Jüngers Kriegsschriften einzuordnen, auch Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen" und - dies ein sehr interessanter Hinweis - Freuds kriegsanthropologische Schriften lesen sollte. Er arbeitet heraus, daß Anti-Demokratismus, Anti-Bürgerlichkeit und Anti-Liberalismus in der Weimarer Republik bei Intellektuellen jedweder Couleur weit verbreitet waren und daß Jüngers Radikalisierung in den späten zwanziger Jahren Teil eines "Zugs zum Unbedingten" sei, der auch Autoren wie Brecht und Benjamin erfaßte. Kiesel: "Kurz, für einen 'deutschen Faschismus' zu plädieren, unter dem man sich keineswegs die spätere NS-Diktatur vorzustellen hat, war um 1926 oder um 1930 nicht so töricht, wie es heute wirkt, und auch nicht gleich verbrecherisch."

Er rekonstruiert, um Jüngers politische Publizistik einzuordnen, die generelle Front- und Haß-Kultur der Weimarer Zeit mit Rekurs auf Heinrich Mann und George Grosz. Er analysiert, wie es Jünger gelang, die allenthalben sichtbaren destruktiven Züge der Moderne im "Abenteuerlichen Herzen" in eine mythisch-sinnerfüllte, "abenteuerliche" Moderne zu überführen und mit diesem - die gesehene Verheerung überwindenden - Akt eine singuläre intellektuelle wie künstlerische Leistung zu vollbringen. Er unterstreicht mit vielen guten Einzelbeobachtungen, daß Jünger weder der "Inaugurator noch der unreflektierte Propagator der 'totalen Mobilmachung'" war. Er arbeitet minutiös heraus, daß Jüngers Rückzug nach 1933 tatsächlich als "innere Emigration" aufgefaßt werden muß und welche besonderen Herausforderungen an Mut, Verantwortungsgefühl und Moral dieser Versuch eines freien Lebens in einem totalitären System darstellte.

Er unterstreicht, daß die "Strahlungen" die Verbrechen der NS-Zeit vielfach und detailliert dokumentieren, und erinnert in diesem Zusammenhang daran, daß gerade Peter de Mendelsohn, Autor der "Gegenstrahlungen" und in den Nachkriegsjahren vehementer Opponent Jüngers, darauf hinwies, daß Jünger in seinen Tagebüchern "die Untaten und Missetaten der deutschen Soldaten, insbesondere im Osten, aber auch in Frankreich" auf das genaueste notierte. Dies ist wichtig angesichts des Vorwurfs des "genauen Vorbeisehens" und "verleugnenden Notierens", den Jan Philipp Reemtsma und andere Jünger regelmäßig machten.

Die Liste der Argumente, mit denen es Kiesel gelingt, den Blick auf Jünger zu versachlichen, ließe sich fortsetzen. Kiesel schafft es in diesen Zusammenhängen immer wieder, überraschende Brücken zu schlagen und - unter Ausnutzung aller veröffentlichten Quellen und punktueller, leider nicht intensiver Nutzung des Nachlasses - kreative Anschlüsse zu finden, so wenn er Bertolt Brechts Gedicht "An die Nachgeborenen" ("Was sind das für Zeiten ..."), das immer wieder gegen Jüngers "Strahlungen" in Stellung gebracht wurde ("Der dort ruhig über die Straßen geht/Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde/Die in Not sind?"), genauer als üblich liest und zu dem Schluß kommt, daß die Lage "nicht einmal bei Brecht" so eindeutig ist, "wie manche Beobachter meinen". Gut ist auch, wie Kiesel bei seinen Werkbesprechungen die Chronologie der Fassungen (nicht nur der "Stahlgewitter") berücksichtigt, um die Veränderungen der Position Jüngers zu dokumentieren.

Doch ergibt dies alles, selbst wenn es gut und flüssig erzählt wäre, noch keine Biographie. Hierzu gehört mehr: episches Feuer, eine Polyphonie von Zeitzeugenaussagen, lebendige, atmosphärische Bildwelten, wechselnde Perspektiven, anekdotenreiches Erzählen, farbige historische Kulissen und so weiter. Gerade aus einer gelungenen Jünger-Biographie müßte plastisch das Bild des letzten Jahrhunderts erstehen. Kaum ein anderer Autor liefert hierzu eine derart gute Vorlage wie Jünger. Doch nichts davon in Kiesels Arbeit. Er interessiert sich offensichtlich weniger für das Leben Jüngers, sondern mehr für die Texte als Objekte germanistischer Einordnung.

Das Heil des Buches hätte also in der Beschränkung auf diesen gleichsam notwendigen inneren Kern - die literarhistorische Bewertung Jüngers - gelegen. So, wie es nun erschien, ist es sehr angreifbar. Es liest sich über weite Strecken wie eine artige Zusammenfassung bestens bekannter Fakten. Es wirkt, so möchte man sagen, "zusammengeschrieben". Schon die Proportionen stimmen nicht. Kiesel widmet der Zeit des Ersten Weltkriegs und den dazugehörigen Werkbesprechungen fast 200 Seiten, den letzten fünfzig Jahren von Jüngers Leben nur noch ganze 90 Seiten.

Am Ende geht es dann immer schneller und flüchtiger zur Sache. Die letzten 70 Seiten sind nur noch eine Aneinanderreihung uninspirierter Werkzusammenfassungen. Das Spätwerk kommt lediglich kursorisch vor. Weder die Alterstagebücher "Siebzig verweht" noch die wichtige späte Schrift "Die Schere", die Jüngers letzte Worte zur Gottesfrage enthält, werden ausführlich gedeutet, obwohl gerade diese beiden Werke eine zentrale Quelle zur Biographie dieses Autors darstellen.

Zudem ist das Buch in einem Stil verfaßt, der von umgangssprachlichen Wendungen ("Der Sommer 1925 muß für Jünger eine angespannte Zeit gewesen sein. Diverse Entscheidungen standen an") und Stilblüten ("kaleidoskopischer Charakter", "expressionistisch aufgeregt und aufgesteilt") durchsetzt ist. Immer wieder fühlt sich Kiesel verpflichtet, seiner moralischen Entrüstung angesichts der deutschen Geschichte Ausdruck zu geben - wohl um ein Gegengewicht zur von ihm unternommenen Rehabilitierung Jüngers zu schaffen und sich selbst der Verurteilung durch die Hüter des Meinungsgrals zu entziehen. Das liest sich dann so: "Wer sich so aufgeführt hatte wie die Deutschen, hatte nicht allzuviel Recht zum Klagen!" Oder so: "Es dauert lange, bis aus der Geschichte etwas gelernt wird."

Dieses der Objektivierung dienende Moralisieren steigert sich mitunter in schwammige Platitüden: "Deutlicher geworden ist auch, daß die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und zumal mit ihren Verbrechen ein schwieriger geschichtlicher Prozeß ist, dessen Erkenntnis- und Bekenntnismöglichkeiten durch sozialpsychologische und politische sowie diskurs- und wissenschaftsgeschichtliche Umstände bedingt waren, ja bis heute bedingt sind und vermutlich unter dem einen oder anderen Aspekt immer unzulänglich bleiben werden."

Dem ganzen Buch mangelt es an Gestaltung, an epischem Aufbau, an erzählerischer Übersicht. Zum führenden Strukturmerkmal wird die Aufzählung. So entsteht kein lesbarer Text, sondern ein mühsam in Form gebrachter Mate-rialblock, der beim Leser nur an wenigen Stellen Lektürefreude aufkommen läßt. Nimmt man das fehler- und lückenhafte Literaturverzeichnis (Beispiel: "Thomas" statt "Tobias" Wimbauer, dessen wichtiges Personenregister überhaupt keine Erwähnung findet), die ausufernden Werk­nacherzählungen ("Marmorklippen"!) und das allseits bekannte, schon hundertfach abgedruckte Bildmaterial hinzu, so läßt sich der Eindruck nicht verleugnen, das Buch sei schnell, zu schnell geschrieben worden.

Besonders ärgerlich ist, daß Kiesel es sogar immer wieder unterläßt, seine Quellen zu nennen. So spricht er beispielsweise auf Seite 384 davon, daß "man" darauf aufmerksam gemacht habe, daß Jünger (in seinen kriegsdokumentarischen Fotowerken) mit retuschierten Bildern arbeitete. "Man" ist in diesem Fall Julia Encke in ihrer Untersuchung "Augenblicke der Gefahr" (2005). Das will der Leser schon wissen, um eine so starke Behauptung nachprüfen zu können.

Bekanntlich ist rechtzeitig zur Buchmesse im Piper-Verlag auch Heimo Schwilks langerwartete Jünger-Biographie (siehe Hinweis auf Seite 17) erschienen, die man nun im direkten Vergleich lesen wird. Dann wird sich zeigen, ob Jünger-Jahr 2008 seine Chancen nutzen kann.

Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Die Biographie. Siedler Verlag, München 2007, gebunden, 720 Seiten, Abbildungen, 24,95 Euro

Aufgang zum Palau Nacional, in dem sich das katalanische Nationalmuseum befindet


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