© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/07 12. Oktober 2007

Heimkehr-Projekt für Bürgerkinder
Jörg Magenau über die Geschichte der linksalternativen "Tageszeitung"
Doris Neujahr

Jörg Magenaus Buch über die Tageszeitung (taz) will mehr sein als eine Fest- und Erbauungsschrift. Statt als Hauspublikation erscheint es im renommierten Hanser-Verlag. Sein Verfasser war bei der taz zwei Jahre lang Literaturredakteur, was nicht automatisch gegen seine Objektivität spricht. Aus seiner Feder stammen viele kluge, reflexive Artikel und Rezensionen, seine Biographie über Christa Wolf verbindet in glänzender Weise Empathie mit kühler Analyse (JF 30/02).

Magenau wartet mit Geschichten, Anekdoten, Personalien, Stimmungsbildern, Berichten über Grabenkämpfe auf, so daß der einschlägig interessierte Leser auf seine Kosten kommt. Die Zeitung war im Gefolge des "deutschen Herbstes" 1977 gegründet worden, der die intellektuelle Linke desorientiert, zerstreut und deprimiert hatte. Einige Redakteure waren als RAF-Sympathisanten verdächtigt worden (ob zu Recht oder Unrecht, läßt Magenau offen) und hatten Erfahrungen mit Hausdurchsuchungen, eingetretenen Türen und verwüsteten Wohnungen gesammelt, einige gleich mehrfach.

Die Kapitel sind nach Jahreszahlen geordnet, doch Magenau mutet dem Leser keine lineare Nacherzählung der taz-Geschichte zu. Ihm geht es um Probleme und Themenschwerpunkte, die sich mit bestimmten Daten verbinden und deren Ent- oder Abwicklung er bis in die Gegenwart verfolgt. Da sind der Brief, den die Brüder des ermordeten Ministerialbeamten von Braunmühl 1986 an die RAF-Täter richteten, oder die Affäre um die "gaskammervolle" Diskothek, die ein taz-Reporter 1988 in Bremen gesichtet hatte, was zu einem scharfen Zusammenstoß zwischen einer ästhetisch-postmodernen Spaßguerilla und der "Tyrannei dogmatischer Gedenkwächter" in der Redaktion führte. Ausführlich behandelt der Autor den Versuch, nach dem Mauerfall gen Osten zu expandieren, und die Gründe für sein Scheitern. Bis heute ist die taz ein rein westdeutsches Projekt geblieben.

Für Magenau ist die taz "eine Zeitung als geistige Lebensform". Aber erst einmal ist sie eine Erfolgsgeschichte. Ihre Auflage ist zwar überschaubar geblieben, doch dafür lesen sich fast alle Zeitungen in Deutschland heute so, als hätten ihre Redakteure frisch bei der taz hospitiert. Die Neuerungen, die sie in die deutsche Presse brachte: die Offenheit für die Popkultur und für soziale Entwicklungen und Bewegungen, reicht zur Erklärung nicht aus.

Magenau bietet ein verblüffendes Erklärungsmuster an: Die taz, trotz ihres anfänglichen linken Verbalradikalismus, sei von Anfang an eine bürgerliche Zeitung, genauer: das Sprachrohr einer "alternativen Bürgerlichkeit" gewesen, das sich auf längere Sicht als ein "Heimkehrer-Projekt" für entlaufene Bürgerkinder erwiesen habe. Für diesen Lern- und Eingewöhnungsprozeß sei West-Berlin der ideale Verlagsstandort gewesen. Die Halbstadt hatte ihr Bürgertum weitgehend verloren, das hinterlassene Vakuum sei allmählich gefüllt worden vom "grün-alternativen Milieu", das heute das "neue Bürgertum und damit die kulturelle Modernisierung der Republik" repräsentiere. Die taz war dafür der Transmissionsriemen.

Magenau paraphrasiert Paul Nolte, der aus der Tatsache, daß Eltern ihre Kinder vor dem Essen wieder vermehrt zum Händewaschen schicken und junge Gutverdiener den ehedem geschmähten Stuck der Altbauwohnungen und das Golfspiel pflegen, die Renaissance deutscher Bürgerlichkeit abgeleitet hat. Wenn Magenau die Bürgerlichkeit der taz-Leser an den "Lehrern und Anwältinnen, Ärzten und Architektinnen" unter den Abonnenten und Unterstützern festmacht, sind das zunächst nichts weiter als formale Kriterien. Wie viele von diesen Vertretern der neuen Bürgerlichkeit tragen tatsächlich zur Wertschöpfung bei und schmarotzen nicht bloß am Steuerkuchen, indem sie als Frauen-, Ausländer-, Antidiskriminierungs-, Fahrradbeauftragte oder als Politiker minderer Qualifikation Aufgabenfelder beackern, die es ohne sie gar nicht gäbe?

Magenaus Besteck reicht nicht aus, um den Zusammenhängen beizukommen. Er sieht ganz richtig, kann aber nicht hinreichend klar formulieren, daß es den Bürger als Moderator zwischen dem bedingungslos moralisch handelnden, gemeinwohlorientierten Citoyen und den egoistischen Bourgeoise nicht mehr gibt, damit keiner von beiden zum Fanatiker und Alleinherrscher wird.

Der Post-68er Citoyen, dessen Organ die taz ist, hat formal seinen Frieden mit den politischen Institutionen geschlossen, um desto wirkungsvoller seine Aktivitäten von der politischen auf die Ebene der Kulturrevolution zu verlagern und in die Tiefe der kollektiven psychischen Disposition vorzudringen, auch mit den Mitteln der Spaßgesellschaft. Die Politisierung des Privaten und Privatisierung des Politischen, die er betreibt, hat die sozialen Energien "in den fiktionalen Stoff öffentlicher Dauerreflexion verwandelt" (Peter Furth), also zur Entpolitisierung geführt.

"Wir sind Wixer", lautete die Schlagzeile zu den Totenschädel-Fotos von Bundeswehrsoldaten. Für deren Ängste und Nöte, für die Frage von Leben und Tod mußten die Wehrdienstverweigerer in den Redaktionsstuben sich nicht interessieren. Gerade erst nahm ein taz-Redakteur die Intervention der afghanischen Frauenministerin zum Anlaß, um die "grüne Errungenschaft" eines "menschenrechtszentrierten, bewaffneten Interventionismus" zu feiern, der vom letzten Grünen-Parteitag aus "Opportunismus" leider über Bord geworfen worden sei. Womit wir bei der taz als bürgerlichen "Lebensform" wären. Wieviel eigene Söhne können und wollen die Tazlerinnen und Tazler für den globalen Menschenrechtsinterventionismus zur Verfügung stellen? Und was für eine Todesquote pro hundert afghanischer Abiturientinnen - denen ihr Abitur herzlich gegönnt sei - halten sie für akzeptabel? Solange sie keine Antwort darauf geben, sind ihre schneidigen Forderungen nichts als moralisierendes Dandytum, das sich mit aggressivem Citoyen-Gebaren mischt.

Als die taz sich 1986 wegen der geplanten Neufassung des Paragraphen 130 ("Anleitung zu Straftaten") in ihrer Freiheit eingeschränkt sah, mobilisierte sie dagegen publizistischen Widerstand. Die Ergänzung von 1994 ("Volksverhetzung") kann sie gar nicht hoch genug preisen. Der Verfassungsschutz observierte die taz-Redation und legte darüber dicke Aktenordner an - heute erscheint ihr der Verfassungsschutz als Freund und Helfer, wenn er die "Rechten" beobachtet.

1994 setzte die taz gegen die Bevölkerungswissenschaftlerin Charlotte Höhn eine Kampagne in Gang, die diese fast zu Fall brachte. Anlaß war eine aufgeschnappte Randbemerkungen zum Thema Gruppendifferenzen in Standard-Intelligenzleistungen. Wie ist das mit ihrer "Radikalisierung bürgerlicher Prinzipien (...) - zuallererst der Pressefreiheit" zu vereinbaren? Letztlich geht es auch ihr nur darum, mit dem Wölfen zu heulen und sogar den Leitwolf zu geben, statt selber als Häschen gehetzt zu werden. Das ist in einem sehr archaischen Sinne menschlich, doch bürgerlich ist es nicht.

Weil solche Fragen von Magenau überhaupt nicht erörtert werden, kommt sein Buch über den Standard einer Erbauungsschrift und Selbstfeier am Ende nicht hinaus.

Jörg Magenau: Die taz. Eine Zeitung als Lebensform. Carl Hanser Verlag, München 2007, gebunden, 280 Seiten, Abbildungen, 21,50 Euro

Park Güell, 1900 bis 1914 von Gaudí erschaffen


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