© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/07 19. Oktober 2007

Was für ein Menschenleben
Doris Lessings Nobelpreis ist kein Sieg im Geschlechterkampf, sondern die Ehrung einer Jahrhundertschriftstellerin
Silke Lührmann

Der Schwedischen Akademie sei Dank: Derzeit tut gerade hierzulande die Erinnerung sehr wohl, daß ein Frauenleben soviel mehr ist als die Wahl zwischen Heimchen und Powerzicke. Und was für ein Frauen-, nein: was für ein Menschenleben, was für ein Lebenswerk! 1919 im damaligen Persien geboren, wuchs Doris May Taylor in Rhodesien mit den Wälzern der viktorianischen Literatur auf, heiratete früh und verließ Mann und zwei Kinder um eines deutschen Kommunisten namens Gottfried Lessing und der Flucht aus der "unerträglichen Langeweile der kolonialen Kreise" willen. 1949 kam sie mit ihrem Sohn Peter und dem Manuskript der "Afrikanischen Tragödie" nach London und entfaltete eine furiose schriftstellerische Tätigkeit: Kurzgeschichten, Gedichte, Essays, Autobiographie, Theaterstücke und Meisterwerke des spätmodernen Realismus wie die "Kinder der Gewalt"-Serie, "Das goldene Notizbuch" (1962) oder "Die Terroristin" (1985). Lessings sufistisch inspirierten Ausflüge ins Science-Fiction-Genre sind Gedankenexperimente im besten und wahrsten Sinne des Wortes, ihr jüngstes Buch "Die Kluft" evoziert eine mythische Urzeit.

Die - auch politisch - engagierte Denkerin, die freilich 1954 aus der Kommunistischen Partei austrat und der Macht der Ideen fast so sehr traut, wie sie den Ismen und Ideologien mißtraut, nun im Augenblick ihres Triumphs wiederum zur "Ikone des Feminismus" zu stilisieren, nur weil sie einige der überzeugendsten Frauengestalten der Literaturgeschichte geschaffen hat, greift jedenfalls um Galaxien zu kurz. Selbst die offizielle Begründung des Nobelkomitees, das in anderen Jahren stets das Universelle, Ewig-Menschliche am Sittengemälde aus Istanbul, dem Grauen der chinesischen Kulturrevolution und selbst der höhnischen Hysterie einer Elfriede Jelinek zu preisen wußte, kommt heuer ungewohnt sektiererisch daher: "der Epikerin weiblicher Erfahrung, die sich mit Skepsis, Leidenschaft und visionärer Kraft eine zersplitterte Zivilisation zur Prüfung vorgenommen hat". Ob man den bis zuletzt als heißen Favoriten gehandelten Philip Roth - der 1969 mit einem Roman über das krankhafte Verhältnis zum eigenen Penis von sich reden machte - als "Epiker männlicher Erfahrung" gewürdigt hätte?


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