© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/07 26. Oktober 2007

Schwieriger Balanceakt
Türkei: Die PKK stellt den EU-Kandidaten vor große Herausforderungen
Günther Deschner

Die Situation an der türkisch-irakischen Grenze eskaliert. Seit Monaten mehren sich Gefechte zwischen Partisanen der Kurden-Organisation PKK und türkischen Truppen. Auf beiden Seiten der Grenze leben überwiegend Kurden. Eine nach dem Ersten Weltkrieg willkürlich gezogene und bis heute nicht befriedete Grenze hat das kurdische Volk getrennt. Aus dieser Erbsünde entstand das Kurdenproblem. Die Kurden haben aufmerksam beobachtet, wie andere völkerfeindliche Grenzen - im ehemaligen Jugoslawien, der einstigen Tschechoslowakei und anderswo - überwunden worden sind. Ihr Streben nach Autonomie hat dadurch neue Impulse bekommen.

Schon lange drangen türkische Militärs darauf, den Kurden eine Lektion zu erteilen. Die Türken stehen hinter diesem Kurs. Ihr nationaler Zorn hat sich noch nie darum geschert, was Kurden denken. Daß nun das türkische Parlament mit einer Mehrheit von 92 Prozent der Regierung das Recht erteilt hat, Truppen in den Nordirak zu entsenden und frei über Art, Umfang und Dauer der Einsätze zu entscheiden, ist ein weiterer fataler Schritt.

Wie in einem Brennglas zeigt diese Entscheidung die Konturen der regionalen Machtprobleme auf und auch die Schatten, die sie auf das Verhältnis der Türkei zu den USA und zu Europa werfen. Noch mag man der Regierung Erdoğan zubilligen, daß Balanceakte auf dem schmalen Grat zwischen innenpolitischen Zwängen und außenpolitischer Realpolitik zum politischen Geschäft gehören. Es kann sein, daß Ankara mit seiner Invasionspolitik vor allem die USA zum Handeln bewegen will. Das macht eine Invasions-Entscheidung vor dem geplanten Treffen zwischen Präsident Bush und Türkenpremier Erdoğan am 5. November unwahrscheinlich.

Die jetzt im Raum stehende Invasion könnte keines der mit der Kurdenfrage zusammenhängenden Probleme lösen. Die PKK-Verbände werden ohnehin nicht in ihren Lagern auf das Eintreffen der Türken warten. Militärische Beobachter halten es für möglich, daß die PKK sogar einen ähnlichen Erfolg verbuchen könnte wie die Hisbollah vor einem Jahr gegen Israel.

Die Türken können im Irak auch nicht in politischem Niemandsland operieren. Das nordirakische Kurdistan wird schon längst - entsprechend der irakischen Verfassung und im Einvernehmen mit den USA - von der kurdischen Regionalregierung regiert. Sie ist demokratisch legitimiert und verfügt überdies über eine 100.000-Mann-Armee, die modern ausgerüstet ist. Nicht zu Unrecht vermutet Ankara, daß die irakischen Kurden langfristig einen eigenen Staat anstreben, der wie ein Leuchtturm den Autonomiebestrebungen der türkischen Kurden die Richtung weisen könnte - eine Horrorvision für die Türkei.  Für diesen Staat, in dem es "nur Türken" geben darf, stellt jede Form kurdischer Autonomie gleich die Daseinsfrage. Ein in der Welt zitierter türkischer Analyst meint sogar, es könne durchaus sein, "daß auch Barsani, dem Präsidenten der autonomen Region Kurdistan, eine Lektion erteilt werden soll und daß auf seinen Kopf die Bomben hageln".

Lautstarke Forderungen, die Türkei solle ihre Grenzübergänge ins irakische Kurdistan schließen, den Luftraum sperren und die Stromlieferungen an den Nordirak einstellen, unterstreichen diese Option. Die regierende AKP muß aber auch andere innenpolitische Rücksichten nehmen, auf die Stimmen der vielen kurdischen Wähler, die sich bei der vergangenen Parlamentswahl für Erdoğan entschieden hatten.

Die kurdische Regionalregierung im irakischen Erbil weiß natürlich, wie wichtig ein brauchbares Verhältnis zum türkischen Nachbarn ist. Direkte Gespräche mit Erbil lehnt Ankara aber ab. Man verhandle nur mit der Regierung in Bagdad, hieß es. Die USA sorgen sich hauptsächlich um den Fortgang ihres Krieges im Irak und um ihre Nachschubwege. Offiziell ist Washington strikt gegen einen türkischen Angriff auf den Nordirak, doch es gibt auch andere Stimmen, die auf die militärischen Beziehungen der beiden bisherigen strategischen Partner abheben. Die türkische Regierung hat starke Optionen. Sie kann zwei Drittel des amerikanischen Nachschubs nach Irak unterbinden, wenn sie die Luftwaffenbasis Incirlik schließt und den Luftraum für US-Flüge sperrt. Das Junktim an die Amerikaner könnte lauten: Wenn ihr wollt, daß wir nicht einmarschieren, dann beendet die PKK-Präsenz im Irak und verhindert, daß der US-Kongreß den türkischen Massenmord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg offiziell als Genozid verurteilt. Ansonsten droht die Kombination abgeschnittener Nachschubwege für die USA und eines türkischen Angriffes im Nordirak.

Von einem solchen Angriff müßten sich auch die Europäer düpiert fühlen. Es ist weitverbreitete europäische Überzeugung, daß der EU-Beitrittskandidat Türkei mit kriegerischen Abenteuern dieser Art kein verläßlicher und vertrauenswürdiger EU-Partner sein kann. Die türkische Regierung hatte ausreichend Zeit, ihre Probleme und Differenzen mit den Kurden und ihren Nachbarn auf gewaltfreie Art zu lösen. Doch demokratische Parteien, die sich der Interessen der Kurden annahmen und  - anders als die PKK - Gewaltverzicht predigten, wurden wegen "Separatismus" verboten. Wenn jetzt im Jahre 2007 blutige Kämpfe am Rand einer geplanten "europäischen Grenze" stattfinden, wäre dies ein weiterer Anlaß für ernsthafte Überlegungen.


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