© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/07 26. Oktober 2007

Jeder Abend war der letzte
Verinnerlichter Kulturpessimismus: Elisabeth Flickenschildt zum 30. Todestag
Marcel König

Mit dem Tod Gustaf Gründgens' in einem Badezimmer in Manila war für Elisabeth Flickenschildt die deutsche Theatergeschichte beendet. Zwar feierte sie selbst nach dem Oktober 1963 noch den einen oder anderen Bühnentriumph, aber sie schloß sich keinem Ensemble mehr an und verpuppte sich immer mehr in der Überzeugung des Brechtschen Verses "Und nach uns wird kommen/Nichts Nennenswertes". 

Wer heute die Post-Gründgens-Ära überblickt, könnte gegen diese hochfahrende Gewißheit wenig ins Feld führen. Schauspielerisches Potential zeigte sich erst wieder Mitte der neunziger Jahre, mit Katrin Saß etwa, mit Martina Gedeck oder Nina Hoss. Bis dahin war Edith Clever eine recht einsame Statthalterin. Von Regiekunst zwischen 1963 und 2007 zu sprechen, verbietet sich ohnehin, auch wenn man kein blinder Parteigänger des manisch gegen staatlich subventionierte Fäkalorgien wütenden FAZ-Scharfrichters Gerhard Stadelmaier ist.

Im Sinne des von ihr verinnerlichten Kulturpessimismus hatte sich die nur noch "Zerstörung" und "Zerfall" wahrnehmende Elisabeth Flickenschildt, als sie vor dreißig Jahren, am 26. Oktober 1977, an der Niederelbe starb, also schon lange überlebt. Desorientiert wirkten zuletzt ihre Fragen, warum die Jüngeren denn "alles Frühere so vollkommen ignorieren" wollten, "alles zerschlagen und nichts besser machen" könnten. Für die Hamburger Kapitänstochter des Jahrgangs 1905, wohlbehütet in "ordentlichen" Verhältnissen aufgewachsen, taten sich mit der vermeintlichen "Kulturrevolution" von 1968ff. eben Abgründe auf.

Mit denen sie persönlich übrigens früh vertraut war. Unter ihren weiblichen Vorfahren gab es Selbstmörderinnen, ihre vorwiegend "dat Gruen vör de Dag" empfindende, todessüchtige Mutter vererbte ihr eine depressive Veranlagung. Doch gerade solche Gefährdungen scheinen Ansporn gewesen zu sein, nach dem "Rettenden" Ausschau zu halten. Politisch erblickte die Hamburger Kleindarstellerin eine solche haltende Macht zunächst in der NSDAP, der sie 1932 beitrat. Nach 1945 konvertierte die Protestantin zum katholischen Glauben. Derart Ideologisches blieb für sie aber eher sekundär. Ihre Sinnerlebnisse speisten sich aus einer Kunstauffassung, die Gewißheiten vermitteln und nicht "zerschlagen" wollte.

Das Theater als Tempel, die Kunst als Religion, das klassische Repertoire als heiliger Text, der Schauspieler als Kultdiener - so lassen sich die "Produktionsbedingungen" am Deutschen Theater im Berlin der NS-Ära auf den Punkt bringen, wo die Flickenschildt seit 1936 zur ersten Garnitur zählte, und erst recht galten sie unter Gründgens, der sie 1939 ans Staatstheater am Gendarmenmarkt verpflichtete. Zur gängigen Münze geworden ist das Bild von Gründgens' "Insel" der Kultur inmitten der "Barbarei". Darin mag auch "Apologetisches" gewittert werden, aber es trifft ins Herz des künstlerisches Selbstverständnisses, wie es nicht nur unter Theaterleuten am Gendarmenmarkt, sondern auch unter den Musikern der Staatsoper und der Philharmonie herrschte. Wenig erstaunlich, daß unter diesen Auspizien mit dem Ausmaß der äußeren Gefährdung die Intensität der künstlerischen Leistung zunahm. Abend für Abend, so erinnert sich Flickenschildt an die Jahre der Luftalarme und des alliierten Bombenterrors, habe man spielen müssen, als sei es das letzte Mal. Überliefert ist die so evozierte ungeheure Eindringlichkeit nur in den Leistungen der Filmschauspielerin: als virile Marketenderin Frau Spiller in Veit Harlans "Der große König" (1942) oder als unheimlich-aufdringliche Concierge in Helmut Käutners überwältigender "Romanze in Moll" (1943). Da für die in Trümmerwüsten hausende deutsche Nachkriegsgesellschaft der Sinnhunger anhielt und nach Befriedigung im Theater suchte, gab es für Elisabeth Flickenschildt 1945 keine künstlerische Zäsur. Ihre Stabilisierungsleistung blieb weiter gefragt, wurde von Gründgens in Düsseldorf und Hamburg offeriert und zuletzt fixiert in der legendären "Faust"-Verfilmung (1960), wo sie als unübertroffene Kupplerin Marthe Schwerdtlein agiert.

Den anschließenden Funktionsverlust des Theaters als Institution sozialer Sinnstiftung quittierte Flickenschildt auf ihre Weise: In belanglos-billigen Edgar-Wallace-Streifen ("Das Gasthaus an der Themse", "Das indische Tuch") verdiente sie als "Horror Lady" sehr viel Geld, um ihrer Passion als Sammlerin von Barockengeln frönen, vor allem aber um ihren "Nebenberuf" als Landwirtin in Oberbayern finanzieren zu können. Eine Variante des von ihr beklagten "Zerfalls", der Reduktion der Schauspielkunst auf spaßige Effekthascherei, hat die als eine der größten Künstlerinnen des deutschen "Sprechtheaters" gerühmte Elisabeth Flickenschildt also höchst geschickt zur privaten Altersvorsorge genutzt.


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