© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/07 26. Oktober 2007

Stadtspaziergang durch acht Jahrhunderte
Vladimir Gilmanovs bemerkenswerter literarischer Streifzug durch seine Heimatstadt Königsberg
Olaf Scharrenberger

Hörst du mich? - Königsberg in den Erinnerungen" nennt sich ein zweisprachiges Buch (Deutsch-Russisch), das vor kurzem im Kaliningrader Verlag Jantarnyj Skaz erschienen ist. Der Herausgeber ist Vladimir Gilmanov, geboren 1955, ein durch zahlreiche Forschungsarbeiten und Vorträge über Kant, Hamann, Herder, Goethe und E.T.A. Hoffmann sowie über die Königsberger Geschichte ausgewiesener Kunst- und Literaturhistoriker der Kaliningrader Universität, dem man die große Liebe zu seiner Heimatstadt in seinen Publikationen anmerkt. Schon im Vorwort zu dieser seiner neuesten Buchveröffentlichung ist sie unüberhörbar.

"Hörst du mich?" So rief man sich leise bis 1945 an der Ostwand des Königsberger Schlosses, an der sogenannten Flüstermauer, einander zu, sich dabei über das besondere akustische Phänomen wundernd, daß diese Worte hundert Meter weiter, am anderen Mauer­ende, deutlich vernehmbar ankamen. Gilmanov vernimmt dieses "Hörst du mich" auch heute noch. Aber für ihn sind es keine hundert Meter, über die ihn vielleicht ein Kind anruft, nein - für ihn sind es 750 Jahre, über die sich die Geschichte der Stadt Königsberg bemerkbar machen will. Gilmanov schreibt, sie sei "wie ein Modell des Weltszenariums, angefangen mit der Erschaffung im Winter 1255 und abgeschlossen mit dem Jüngsten Gericht im April 1945. Welches Hörvermögen muß man haben, um zu verstehen, daß der Fall der Zitadelle der deutschen Wehrmacht - der Festung Königsberg - gar nicht mit dem Untergang der weltoffenen Kulturmetropole von Weltbedeutung, der Stadt Königsberg, gleichzusetzen ist. Dieses Königsberg von früher ist zu einem Gespenst im modernen Kaliningrad geworden, das schon längst nach einem Dialog mit dem letzteren sucht, damit (...) die 'goldene Schale nicht zerschlagen wird' (Prediger 12, 6)."

In diesem Sinne stellt Gilmanov chronologisch angeordnet knapp fünfzig Texte deutscher und russischer Autoren über Königsberg aus der Zeit der Stadtgründung bis zum Jahr 1946 zusammen. Die meisten der russischen Texte und Autoren sind hierzulande wenig bekannt bzw. waren bisher in deutscher Übersetzung nicht zugänglich.

Gilmanov beginnt mit einem Auszug aus der "Chronik des Prußenlandes" des Peter von Dusburg (um 1340), in welchem die Stadtgründung dargestellt ist, und endet mit Zeitzeugenberichten von russischen Neusiedlern in der unmittelbaren Nachkriegsepoche. Einen Schwerpunkt der Textauswahl legt er in die Zeit des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts, in die Epoche Peters des Großen, als zahllose russische Intellektuelle in der Pregelstadt zu Gast waren und in "Reisebriefen" ihre Eindrücke niederschrieben. Des weiteren wird die Zeit der russischen Besatzung während des siebenjährigen Krieges und schließlich die Jahre der napoleonischen Kriege besonders berücksichtigt.

Die Schilderungen der Stadt durch Russen sind durchgehend voll Lobes über die Residenzstadt am Pregel. Ivan Isakov (1745-1805) war nach 1783 der erste russische Konsul in Königsberg. Seine ausführliche Beschreibung der Stadt, die Gilmanov in Auszügen in sein Buch aufgenommen hat, ist ein kulturgeschichtliches Zeugnis besonderer Art. Andrej Bolotov (1738-1833), ein Dichter und Naturwissenschaftler, verfaßte ein "Selbstdargestelltes ereignisreiches Leben". In einem Kapitel daraus findet sich eine sehr genaue Stadtbeschreibung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der Publizist M.V. Stanislavskij beschreibt einen Besuch in Königsberg 1884 und läßt ein köstliches kulturhistorisches Bild entstehen.

Einen Kontrast dazu bilden beispielsweise die feuilletonistischen Darstellungen Herbert Eulenbergs in den "Etüden aus Litauen, Weißrußland und Kurland", wo er in Königsberg auf den Spuren Hoffmanns unterwegs ist. Auch Auszüge aus den Diarien der Käthe Kollwitz dürfen nicht fehlen. Ernst Moritz Arndt, Ernst Wichert, Felix Dahn, Hermann Sudermann und Johannes Bobrowski ergänzen unter anderem die Reihe der deutschen Autoren. Doch auch Lyrischem wird Raum gegeben. Albrecht Goes' bewegendes "Verlorener Heimat eingedenk" mag hier als ein Beispiel erwähnt sein.

Gilmanov ergänzt die Texte mit im Westen teils kaum bekannten Bildmaterial, alten Stadtansichten, Stahlstichen, Zeichnungen sowie Fotos aus den letzten hundert Jahren, wobei eine Aufnahme des trümmerbereinigten Königsberger Zentrums aus den Nachkriegsjahren besonders erschüttert. In der Auswahl seiner Texte vermeidet der Herausgeber allerdings jede Sentimentalität. Sieht man von den Darstellungen der Zeit nach 1945 ab, handelt es sich trotz der Überschrift "Königsberg in den Erinnerungen" um überwiegend sachliche Schilderungen. Darin unterscheidet er sich von den ansonsten ähnlich gearteten Büchern eines Wilhelm Matull wie "Liebes altes Königsberg" oder jenen von Martin A. Borrmann ("Geliebtes Königsberg"), die beide mit ähnlichem Anspruch in den fünfziger Jahren herauskamen, aber voll Wehmut sind.

So schließt Gilmanov mit seinem Werk eine Lücke innerhalb der Königsberg-Literatur. Bedauerlicherweise sind die jeweiligen Quellenauszüge recht knapp gehalten, doch mußte man wohl wegen der Zweisprachigkeit des Buches die einzelnen Textauszüge so kurz wie möglich halten. Demgegenüber wirkt das Buch leider auch "überbebildert". Weniger wäre hier zugunsten des Textumfangs mehr gewesen. Ein weiteres Manko ist, daß Gilmanov versäumt hat, die Quellen der russischen Texte anzugeben, und leider sind die Angaben auch bei den deutschen Autoren unvollständig. Denn die Lektüre macht Lust darauf, mehr von und über die russischen Autoren zu erfahren.

Vladimir Gilmanov (Hrsg.): Königsberg in Erinnerungen. Verlag Jantarnyj Skaz, Kaliningrad 2007, gebunden, 296 Seiten, in Russisch und Deutsch, 25 Euro


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