© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/07 02. November 2007

Gemeinsames Gedenken in Görlitz
Geschichtspolitik: Die Bürgermeister der deutsch-polnischen Grenzstadt wollen mit einem Dokumentationszentrum an Flucht und Vertreibung erinnern
Paul Leonhard

Die geteilte niederschlesische Grenzstadt Görlitz will in das Konzept für das geplante Vertriebenenzentrum in Berlin einbezogen werden. Der Görlitzer Oberbürgermeister Joachim Paulick (CDU) hat vergangene Woche gemeinsam mit seinem polnischen Amtskollegen Rafal Gronicz (Bürgerplattform) eine deutsch-polnische Initiative vorgestellt. Unter dem Motto "Gemeinsames Erinnern" soll an der Neiße ein Forschungs-, Erinnerungs- und Dokumentationszentrum zu Flucht, Vertreibung und erzwungener Aussiedlung gegründet werden. Görlitz stehe wie kein anderer Ort für das Schicksal der in Folge des Zweiten Weltkrieges Vertriebenen, sagte Paulick. Mit seiner Geschichte sei der Standort einmalig.

Es ist nicht der erste Anlauf, den die zusammen rund 92.000 Einwohner zählende Doppelstadt nimmt, um sich bei der Diskussion um ein Zentrum gegen Vertreibungen ins Gespräch zu bringen. Bereits im Sommer 2002 hatte Kulturbürgermeister Ulf Großmann in einem Schreiben an den damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau den Vorschlag unterbreitet, das seit 1945 geteilte Görlitz als geeigneten Standort eines Europa-Zentrums gegen Vertreibungen zu benennen. Später hatte Dieter Bingen, Direktor des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt, Görlitz ins Spiel gebracht. Auch die sogenannte Kopernikus-Gruppe, eine Initiative von deutschen und polnischen Wissenschaftlern, favorisierte Görlitz/Zgorzelec als Hauptstandort für ein Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen als ein Netzwerk verschiedener Einrichtungen in Deutschland, Polen und dem übrigen Europa.

Für Görlitz spricht, daß es für Millionen Flüchtlinge in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges eine Durchgangsstation war. Nach Kriegsende nahm die Stadt Zehntausende vertriebene Schlesier auf, von denen viele heimisch wurden und Görlitz bis heute prägen. In Zgorzelec, dem seit 1945 polnischen Teil von Görlitz, fand dagegen ein kompletter Bevölkerungsaustausch statt. Die heute hier lebenden Familien haben ihre Wurzeln meist in den ehemaligen polnischen Ostgebieten.

Auf beiden Seiten der Grenze waren die Wunden, die der Krieg gerissen hatte, und das gegenseitige Mißtrauen so groß, daß man bis zum EU-Beitritt Polens mit dem Rücken zueinander lebte. Erst allmählich wachsen jetzt beide Städte zusammen - eine Entwicklung, an der die auch von Zgorzelec mitgetragene gescheiterte Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas 2010 Anteil hatte. Bereits damals wurde dem Kapitel Vertreibung große Aufmerksamkeit geschenkt.

Auch von polnischer Seite. Es sei für sein Land höchste Zeit, sich mit den Lebenswegen der nach 1945 umgesiedelten Landsleute zu beschäftigen, sagte Bürgermeister Gronicz. Auf beiden Seiten der Neiße hätten sich Leiden und Verlust tief im Bewußtsein der Menschen eingeprägt. Deswegen sei für Polen wie Deutsche ein Gedächtnisort in Görlitz/Zgorzelec wichtig als Symbol der Versöhnung und Verständigung und als Beginn einer gemeinsamen Erinnerungskultur.

Angeregt wird der Aufbau eines Museums mit Dauer- und Wechselausstellungen, ein Tagungszentrum für Konferenzen und als Plattform für wissenschaftliche Forschungsprojekte und deren Vernetzung. Ausgangspunkt dafür könnte das bereits in Görlitz bestehende Schlesische Museum sein, eine Bundeseinrichtung. Die Neißestadt will dabei nicht in Konkurrenz zu dem geplanten Dokumentationszentrum in Berlin treten. "Wir wollen Teil dieser Erinnerungsstätte werden", sagte Paulick.

Während die Politiker in Berlin eher skeptisch auf die Initiative aus Niederschlesien reagierten, erhofft man sich Rückenwind von der künftigen polnischen Regierung. Für diese könnte insbesondere die von Zgorzelec ausgehende Initiative willkommener Anlaß sein, das Vorhaben zu unterstützen und damit auch die bisher negative polnische Einstellung zum Vertriebenenzentrum in Berlin zu korrigieren.


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