© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/07 02. November 2007

Weltschmerz und totaler Krieg
Von Portugal bis Rußland, von Skandinavien bis Israel: Das Buch "Looking For Europe" verschafft Einblicke in den Kosmos des Neofolk
Martin Lichtmesz

Schwarze Klamotten, wirr toupierte Haare, silberne Kreuze und Pentagramme, eine Neigung zu Lack und Leder, dazu Kajalstift unter dem Augenlid auch bei den männlichen Exemplaren - so stellt man sich die Repräsentanten der "Gothic"-, "Darkwave"-, oder in Deutschland schlicht "Grufti"-Szene genannten Jugend-Subkultur im allgemeinen vor. Auf deren alljährlicher Großversammlung, dem Wave-Gotik-Treffen in Leipzig, kann man neben Mittelaltermärkten und S/M-Dresscode-Parties allerdings auch Auftritte erleben, die ein gänzlich anderes Bild bieten.

Im vergangenen Jahr etwa las der Dichter Rolf Schilling in Rahmen eines Konzertes der Gruppe Orplid aus seinem Essay "Geheimes Deutschland". Schauplatz war das Innere des Völkerschlachtdenkmals. Das Publikum trug im Durchschnitt deutlich kürzere Haare als auf anderen Konzerten des Treffens, im Kleidungsstil dominierten Uniform­elemente. In dieser monumentalen Atmosphäre, zu den Füßen teutonischer Steinriesen, spielte die Gruppe um Uwe Nolte und Frank Machau pathosgetränkte Lieder.

Dieser seltsame Brückenschlag von Dracula zu Stefan George hat einen Namen: "Neofolk". Unter dieser Bezeichnung ist die wildwuchernde Seitenlinie der "schwarzen Szene" seit etwa einem Jahrzehnt berühmt und berüchtigt geworden. Verdächtig erscheint manchen die Dominanz von Magie und Mystik, die Verwendung von Akustikgitarren, Landsknechtstrommeln und deutschen Texten, vor allem aber die auffällige Vorliebe der Fans für Runenaufnäher und Tarnjacken-Look. Längst haben "antifaschistische" Kreise einen neuen Feind gewittert und dem Phänomen ein ganzes Buch gewidmet: "Ästhetische Mobilmachung - Dark Wave, Neofolk und Industrial im Spannungsfeld rechter Ideologien" (2002).

Nach einer Flut von linksextremer "Anprangerungs"-Desinformation ist nun endlich eine umfangreiche, politisch relativ neutrale Insider-Darstellung der umstrittenen Subkultur erschienen. "Looking for Europe" von Andreas Diesel und Dieter Gerten verspricht, die "Hintergründe" des Neofolk aufzuklären und manches verzerrte Bild zu korrigieren. Der Titel bezieht sich auf ein Lied der britischen Gruppe Sol Invictus, in dem es heißt: "Wenn du Europa suchst, dann suche es am besten in deinem Herzen."

"Europa" ist ein zentrales, aber vage definiertes Schlagwort der international venetzten Szene. Neofolk, auch unter den Namen "Apocalyptic Folk" oder "Folk noir" bekannt, wird von Portugal bis Rußland, von Skandinavien bis Israel und darüber hinaus gehört und produziert. Über diesen mächtig angewachsenen Kosmos geben Diesel und Gerten auf über 500 Seiten einen fesselnden Überblick.

Im Zentrum steht die ausführliche Vorstellung von etwa 70 Gruppen und ihren Vorläufer. Dabei hat ein großer Teil der als "Neofolk" schubladisierten Produktion wenig bis gar nichts mit "Folk" zu tun. Die Bandbreite der im Szenekontext rezipierten Musik reicht vom besinnlichen Lagerfeuergeklampfe über klassische Orchestrierung bis zur dissonanten Krachorgie. Zu verstehen ist diese Klammer am besten über die Geschichte der beiden wichtigsten Gruppen des Genres, den britischen Current 93 und Death In June, die allein ein dickleibiges Buch füllen würde.

Der aus dem Umfeld der radikal ikonoklastischen "Industrial"-Szene stammende David Michael Bunting, genannt Tibet, gründete 1983 das experimentelle Projekt Current 93, das sich in der Tradition des Satanismus von Lautréamont bis Aleister Crowley sah. Auf dem Album "Swastikas for Noddy"(1986) adaptierten Current 93 Pop- und Folkelemente, verbanden makabre Kinderreime, okkult-surreale Lyrik und apokalyptische Zitate von der Bibel bis zur Edda und Charles Manson zu einem unerreichten Meilenstein, quasi dem "Sergeant Pepper" des späteren Neofolk.

Mit diesem Album setzte auch eine intensive Kollaboration mit Douglas Pearce von Death In June ein. Diese Band war aus den Überresten der linksradikalen Gruppe Crisis hervorgegangen und spielte zunächst düsteren Post-Punk im Stil von Joy Division. Berüchtigt wurden Death In June vor allem durch eine ambivalente Verwendung von NS-Symbolen. Nachdem die Band vom Trio zum Ein-Mann-Projekt geschrumpft war, verfestigte sich ihr Image endgültig zu jener notorischen Mischung aus Homoerotik, Sadomasochismus, Runenmagie und faschistischer Ästhetik, die ohne die Kenntnis von Pearces Lieblingsautoren Yukio Mishima und Jean Genet kaum zu verstehen ist.

Der Umkreis der beiden Bands wurde von David Tibet früh als "Apocalyptic Folk" bezeichnet. Antifa-Autoren blenden in der Regel die verblüffende Spannweite dieser "Familie" aus. Außer den Genannten zählten etwa die avantgardistischen Nurse With Wound und die Pioniere psychedelischer Elektronik Coil dazu. Ein Fan der "Familie" hatte stets einen stereoskopischen Blick: Während Boyd Rice (NON) in SS-Uniform unter martialischem Gedöns den "Total War" beschwor, nahmen die befreundeten Current 93 zarte Weltschmerz-Lieder mit zunehmend christlicher Färbung auf.

Inzwischen leben die Mitglieder der "Familie" in Scheidung und haben neue künstlerische Pfade betreten. Ihr Erbe übernahmen in den Neunzigern Gruppen wie Blood Axis, Allerseelen, Ostara, Waldteufel, Forseti oder Camerata Mediolanense, um nur einige zu nennen.

Der ungeniert eklektizistische Zugriff der schillernden Protagonisten des Apocalyptic Folk und ihrer Nachfolger schockte, faszinierte und begeisterte Tausende, die an der Schonkost des Konsens würgten. Der Anstoß, den sie gaben, entsprach den elektrisierenden Worten, mit denen Botho Strauß den "89ern" empfahl, "Einzelgänger" zu werden: "Man muß nur wählen können; das einzige, was man braucht, ist der Mut zur Sezession, zur Abkehr vom Mainstream."

Dabei waren es in diesem Fall vor allem die obskuren, tabuisierten Abwege, die den größten Sog ausübten. Stephan Pockrandt, Inhaber des Dresdner Plattenlabels Eis & Licht und Herausgeber der Szenemagazine Sigill, Zinnober (beide inzwischen eingestellt) und Zwielicht (JF 39/07), skizziert eine typische Disposition: "Die Musik, die alle hörten, wollte ich nicht hören, und was andere für extrem und abartig hielten, war für mich das Größte und Tollste. Verbotene Horrorfilme, Pornographie, schwarze und heidnische Magie, extreme Musik, Drogen, Bejahung alles Verneinenden und geschichtliche Extreme wie totalitäre Diktaturen interessierten mich brennend." Ein Eintauchen in nihilistische Stahlbäder, aus denen schon so mancher als "konservativer Revolutionär" wieder aufgetaucht ist.

Die Schocks, die Michael Moynihan (Blood Axis) oder Boyd Rice mit ihren drastisch überspitzten und nicht immer ganz ernst gemeinten Aussagen auslösten, wirkten für manches von liberalen "All-Gemeinheiten" verkleisterte Gehirn wie eine reinigende Roßkur. Auf die Bewältigungs-Konditionierung, der man durch Schule und Medien hilflos ausgesetzt war, übten die Rätsel, die Death In June aufgaben, eine verstörend subversive Wirkung aus. Man wurde "kritischer", aber leider in einem Sinn, der den Linken unerwünscht ist.

Dennoch weisen viele Neofolker deren "Vorwurf", deshalb "rechts" zu sein, vehement zurück. Über die diesbezüglichen Kontroversen unterrichten Diesel und Gerten ausführlich. Sie zeigen dabei eine vorbildliche Gesprächsbereitschaft, zu der die militanten Vertreter "emanzipatorischer Ideale" in der Regel unfähig sind. So kommen auch Kritiker des Neofolk zu Wort wie Vertreter der Initiative "Gruftis gegen Rechts". Die meisten von linker Seite gezeichneten Porträts erweisen sich als verzerrt und lückenhaft. In einer brillanten Polemik im Anhang des Buches schreibt Aleš Pickar über Gerhard (vormals Kadmon) von Allerseelen: "Bei Allerseelen muß ein Autor eine Menge drechseln und diverse Referenzen zu linken, esoterischen und libertinen Künstlern und Philosophen ausblenden, um in seinem Zeitungsartikel das Übriggebliebene als 'rechtsextremistisch' verkaufen zu können."

Während sich nun die "Ästhetische Mobilmachung" im akribischen Aufzählen tatsächlicher oder angeblicher "rechter" Kontakte ausgewählter Protagonisten und in inquisitorischen Interpretationen erschöpfte, widmen sich Diesel und Gerten dem Selbstverständnis und den künstlerischen Inhalten der vorgestellten Gruppen. Sie geben einen stupenden Einblick in die poetischen, mythologischen und (musik-)geschichtlichen Hintergründe ihrer Kunst.

Dabei wird auffallen, daß die häufig von Freund und Feind als "rechts" etikettierte Szene insgesamt wenig zum politischen Kulturkampf taugt. Hoffnungen auf entsprechendes Potential, wie sie etwa Josef Klumb ("Von Thronstahl") wiederholt zum Ausdruck brachte, werden in der Regel frustriert.  Die Einflußreichsten unter den Szene-Heroen sind allenfalls eigenwillige "Waldgänger" und "Anarchen" nach Jünger (der in Neofolk-Kreisen äußerst populär ist) oder auch transzendenzhungrige "Outsider" nach Colin Wilson. Den ganzen Verkrampfungen und Hysterien inner- und außerhalb der Szene liegt der simple Sachverhalt zugrunde, daß die Bezeichnung "rechts" immer noch als zuverlässiges Bannwort funktioniert und eher einen vagen ethischen Defekt als einen konkreten Inhalt bezeichnet. Solange die Linke die kulturelle Deutungshoheit innehat, wird das auch so bleiben.

Neofolk als Ganzes aber ist  vielleicht "rechts" im Sinne von Botho Strauß, verstanden als "Akt der Auflehnung: gegen die Totalherrschaft der Gegenwart, die dem Individuum jede Anwesenheit von unaufgeklärter Vergangenheit, von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit rauben und ausmerzen will". Diesen  musikalischen Akt der Auflehnung, den Alain de Benoist "dionysisch" nannte, in all seinen schillernden Facetten zu entdecken, laden Diesel und Gerten mit ihrem kurzweiligen, längst überfälligen Buch ein. Liebhaber der betreffenden Musik werden es mit heraushängender Zunge verschlingen.

Andreas Diesel, Dieter Gerten: Looking for Europe. Neofolk und Hintergründe. Prophecy 2007, kartoniert, 2. Auflage, 536 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 24,95 Euro

Fotos: Mitglieder der Band Current 93 während der Aufnahmen zu dem Album "Swastikas for Noddy" (1986): Ein Meilenstein, Plattencover von Death In June


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