© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/07 02. November 2007

Morsche Welten, neue Menschen und Leichenberge
Vor neunzig Jahren fand die Oktoberrevolution in Rußland statt / Startschuß für das Jahrhundert der Ideologien
Heinz Magenheimer

Die Ereignisse des Jahres 1917 sollten nicht nur für Rußland, sondern auch für die übrige Welt eine Revolution im wahrsten Sinne des Wortes bilden. Es ging um weit mehr als um die Schaffung eines neuen Staatsgebildes, nämlich um die Aufrichtung einer völlig neuen Gesellschaftsordnung und, was vielleicht noch größere Bedeutung erlangte, um die weltweite Verbreitung einer politischen Botschaft, die von vielen als Heilslehre zur Befreiung der Völker betrachtet wurde. Der Kriegseintritt Rußlands lag aus späterer Sicht nicht im Sinne der Regierenden, da Rußland dringend eine Zeit des äußeren Friedens gebraucht hätte, um die zahlreichen Neuerungen, vor allem die Industrialisierung und die Landreform, zu bewältigen, ganz abgesehen von der Konfrontation mit den radikalen Strömungen im Inneren.

Seit dem niedergeschlagenen Aufstand von 1905 machten sich revolutionäre und anarchistische Parteien immer stärker bemerkbar, deren Anführer fast durchwegs aus den Reihen der Intelligenz stammten. Zu diesen Parteien zählten auch die Bolschewiki, die sich 1903 von den Menschewiki getrennt hatten. Die Furcht der herrschenden Kreise vor einem Umsturz ließ sie davor zurückschrecken, eine Bürgergesellschaft nach westeuropäischem Beispiel zu errichten. Nachdem sieben Versuche, den refomwilligen Ministerpräsidenten Stolypin zu ermorden, gescheitert waren, hatte schließlich das Attentat vom September 1911 durch einen Kiewer Anarchisten Erfolg, bestärkte aber diejenigen, die von einer weitverzweigten Verschwörung der Radikalen ausgingen, die obendrein vom Ausland finanziert würden. Noch aber stand nicht die Gesamtheit der Arbeiterschaft hinter den Revolutionären, schon gar nicht das Bauerntum, das achtzig Prozent der Bevölkerung umfaßte.

Als sich Zar Nikolaus im August 1914 bewegen ließ, gegen die Mittelmächte mobil zu machen, sahen Sozialrevolutionäre und die meisten Marxisten darin keinen Vorteil, da es ihren Zielen zuwiderlief. Nur Lenin, der Führer der Bolschewiki, wie sich die Partei seit 1903 nannte, begrüßte den Krieg als Vehikel, um einen Bürgerkrieg zu entfesseln und die herrschende Klasse hinwegzufegen. Er forderte die Arbeiterklasse jedes kriegführenden Staates auf, die Niederlage ihrer eigenen Regierung zu betreiben, um dann die Macht zu übernehmen. Schließlich sollte der Weltkrieg - und damit umreißt Lenin ein reichlich utopisches Ziel - in eine Weltrevolution münden. Die Niederlage des Zarismus hätte demnach als Startschuß für diese Weltrevolution zu dienen. Schon in früheren Schriften hatte Lenin formuliert, daß der Staat als Provisorium erhalten werden solle, bis man im Sinne der Losung "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" zur Weltrevolution schreiten würde. Seit 1902, als Lenin "Was tun?" geschrieben hatte, stand die Machtfrage im Mittelpunkt seiner Überlegungen.

In der Kriegsfrage hatte Friedrich Engels 1891 gemeint, daß bei einem Sieg Deutschlands in einem künftigen Krieg die sozialdemokratische Partei an die Macht kommen würde. Doch dies lag nicht im Sinne Lenins, der die Niederlage der Regierenden brauchte. Er wollte nach der erhofften Revolution keinesfalls die sozialistischen Parteien "reinigen", sondern strebte die Schaffung einer straff geführten, disziplinierten Kaderpartei an, die bestens geeignet war, eine Diktatur völlig neuer Art auszuüben.

Nach den schweren Niederlagen der russischen Armee nahm die allgemeine Kriegsmüdigkeit, begünstigt durch schwere Versorgungsmängel, dramatisch zu. Die Friedenspartei, die das Verhandlungsangebot aus Berlin vom 12. Dezember 1916 begrüßte, brachte nicht die nötige Tatkraft auf, um den Zaren zur Beendigung des Krieges zu veranlassen. Die revolutionären Zellen, die vom westlichen Ausland kräftig finanziert wurden, schürten den Unmut in der Arbeiterschaft und wirkten auf den Umsturz hin. In der Volksvertretung, der Duma, strebte vor allem der "progressive Block" nach Änderung der Machtverhältnisse, ohne daß aber die Abschaffung der Monarchie als gemeinsames Ziel galt. Als der Aufruhr und die Streiks in Petrograd, heute Sankt Petersburg, im Februar 1917 überhand nahmen, setzte der Zar Truppen ein, in denen aber bald eine Meuterei ausbrach, wobei zarentreue Offiziere erschossen wurden. Es zeigte sich, daß viele Truppenverbände bereits auf die eingeschleusten Agitatoren hörten und sich auf die Seite der Aufständischen stellten.

Nach der Abdankung des Zaren am 15. März 1917 (nach westlicher Zeitrechnung) ergriff eine "provisorische" bürgerliche Regierung, zunächst unter dem Fürsten Lwow, dann unter Alexander Kerenski die Macht. Mit der Abdankung war auch die Monarchie zu Ende gegangen, ohne daß die neuen Herren über die nötige Autorität verfügt hätten, die das Riesenreich dringend gebraucht hätte. Die neue Regierung verkündete eine Vielzahl von demokratischen Rechten, darunter das Streikrecht, stellte die etwa fünf Millionen Juden den übrigen Bürgern gleich und versprach baldige Wahlen zur konstituierenden Versammlung. Kerenski beeilte sich, den Krieg an der Seite der Entente fortzusetzen. Nicht zuletzt dürfte der Fingerzeig aus den USA maßgeblich gewesen sein, im Falle eines Separatfriedens mit den Mittelmächten die Finanzhilfe für Rußland sofort zu beenden. Nur wenige Stimmen im Lager der Gemäßigten forderten die Kriegsbeendigung.

Wie verhielten sich nun Lenin und seine engsten Anhänger in dieser Lage? Lenin war Anfang April 1917 wieder nach Rußland zurückgekehrt. Durch Vermittlung des Geschäftsmannes Parvus-Helphand hatte die deutsche Oberste Heeresleitung den Entschluß gefaßt, Lenin aus seinem Schweizer Exil mit 190 anderen Revolutionären durch halb Europa nach Finnland zu transportieren, von wo aus er nach Petrograd gelangen konnte. Es lag auf der Hand, daß die militärische Führungsspitze hoffte, auf diese Weise dem Friedensschluß rasch näher zu kommen. Lenin lehnte jede Zusammenarbeit mit den anderen Duma-Parteien ab. In seinen "Aprilthesen" legte er dar, daß die Märzrevolution nur die kapitalistische Bourgeoisie an die Macht gebracht hätte, die genauso zu bekämpfen sei wie die Monarchie. Es sollten daher die Massen des Proletariats aufgeklärt werden, daß der Krieg weiterhin ein imperialistischer Raubkrieg bleibe und daß die Macht ganz in die Hände des Proletariats gelangen müsse. Auf keinen Fall dürfe man auf ein "Heranreifen der Revolution" warten.

In diesem Sinne versuchten die Bolschewiki, Einfluß auf das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets, also auf die Räte, zu gewinnen, die immer mehr zu einer Schattenregierung wurden. Viele Angehörige des Exekutivkomitees führten Decknamen, um ihre Herkunft zu verheimlichen, was zu Argwohn und Kontroversen führte. Da Lenin die Weltrevolution zunächst zurückgestellt hatte, strebte er einen Rätestaat an, wobei die Räte sowohl legislative als auch exekutive Befugnisse erhalten sollten. Nicht umsonst verfocht man die Parole: "Alle Macht den Sowjets!". Die Agitation lief unterdessen unter der Devise "Die Wahrheit ist unsere Stärke" weiter. Inzwischen waren zahlreiche verbannte oder emigrierte Bolschewiki nach Petrograd gekommen, unter ihnen Lew Kamenew, Grigori Sinowjew, Lew Trotzki, Jakow Swerdlow, Moissej Urizki, Josef Stalin und Moissej Charitonow, Lenins Gefährte in der Emigration. Einige von ihnen sollten dem ersten Zentralkomitee und dem ersten Politbüro angehören, das im Oktober gewählt wurde. Aber fünf von ihnen sollten auch den Stalinschen Säuberungen zum Opfer fallen oder ermordet werden.

Kerenskis Position kam immer mehr ins Wanken. Er zögerte die Wahlen für eine verfassunggebende Versammlung hinaus, die versprochenen Neuerungen verzögerten sich. Auch die Lebensmittelversorgung blieb mangenhaft, so daß der Unmut über die Regierung zunahm. Dritter Fehler war, auf Ersuchen der Entente Anfang Juli nochmals eine Offensive zu befehlen, die nach wenigen Tagen scheiterte. Seither ging die Armee ihrem Zerfall entgegen. Ende August kam es zum Putsch des General Kornilow, des Oberbefehlshabers der Armee. Wenn auch der Putsch an den Verteidigern Petrograds scheiterte, schwächte er ebenfalls die Autorität der Regierung.

Nach einem gescheiterten Putschversuch im Juli war Lenin vorübergehend nach Finnland geflohen, während die Regierung prominente Bolschewiki festnehmen ließ. Inzwischen übernahmen Stalin und Swerdlow die Führung. Die Partei wurde zur Abgrenzung in "Russische Kommunistische Partei der Bolschewiki" umbenannt. Stalin gewann als Gefolgsmann Lenins an Ansehen, lavierte zwischen den Fraktionen, hielt sich aber lieber im Hintergrund. Nun spitzte sich alles auf die Frage zu, ob man abwarten oder möglichst bald einen Umsturz wagen sollte. Während der zurückgekehrte Lenin auf ein rasches Losschlagen drängte, lehnten die "Abweichler" Kamenew und Sinowjew diese Strategie ab. Schon damals machten sich in der scheinbar fest gefügten Kaderpartei Differenzen bemerkbar, die Stalin in späteren Jahren meisterhaft zur Aufrichtung seiner Alleinherrschaft nutzte.

Am 16. Oktober erhielt Lenin endlich die Zustimmung des Zentralkomitees zur Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes. Trotzki, der bereits Präsident des Petrograder Sowjets war, begründete diese Aktion raffiniert damit, daß die Bolschewiki rasch eingreifen müßten, da Kerenski die Absicht habe, nach Moskau zu flüchten und dort eine Konterrevolution zu inszenieren. Damit werde die Hauptstadt Petrograd den anrückenden Deutschen preisgegeben. Der Drahtzieher des Umsturzes war jedoch niemand anderer als Trotzki.

Die Truppen der Hauptstadt unterstellen sich am 3. November dem Revolutionären Militärkomitee, in dem Trotzki das Kommando innehat, was auf eine völlige Entmachtung der Regierung hinausläuft. Am 7. November schreiten Lenin und Trotzki zur Tat. Der Staatsstreich stieß kaum auf Gegenwehr, Kerenski wurde völlig überrascht. Während die Putschisten bereits das Winterpalais erobern und die Verteidiger niedermachen, prahlt er noch im Vorparlament noch damit, daß er zwei kommunistische Zeitungen verboten habe. Als tags darauf die Kronstädter Matrosen eintreffen, ist die Entscheidung bereits gefallen. Eine Revolte von Offiziersanwärtern wird von Trotzki brutal niedergeworfen, und Kerenski ergreift die Flucht. Die Bolschewiki haben einen leichten Sieg errungen.

Ihre Machtbasis blieb aber zunächst sehr schmal, da die Bolschewiki nur gemeinsam mit linksradikalen Sozialrevolutionären die Mehrheit im II. Sowjetkongreß besaßen, der zu dieser Zeit tagte. Was jetzt folgte, war ein bisher unbekannter politischer und sozialer Umsturz. Alle bürgerlichen Parteien wurden verboten und die Pressefreiheit weitgehend eingeschränkt, während inzwischen Bucharin in Moskau die Macht eroberte. Noch am 20. Dezember gründete Lenin die Geheimpolizei "Tscheka" unter Felix Dserschinski, die einen schauerlichen Ruf erlangen sollte. Der Beamtenapparat wurde mit Hilfe von Vertretern der Intelligenz umgestaltet, denn die neuen Machthaber hatten einen enormen Bedarf an Erfüllungsgehilfen. Gegen Adel und Bürgertum brach eine gnadenlose Hetzjagd los. Wer dieser entgehen wollte, dem blieb nur die Flucht ins Ausland. Als Lenin am 19. Januar 1918 die verfassunggebende Versammlung, die sich geweigert hatte, den "Räten" alle Macht einzuräumen, aus dem Taurischen Palais verjagen ließ, war die Rätediktatur Wirklichkeit geworden.

In der Folge erwies sich das Streben Lenins nach der Weltrevolution als Seifenblase. Die rauhe Wirklichkeit holte die Bolschewiki ein, die ihre Position nur durch einen äußerst grausam geführten Bürgerkrieg mühsam behaupten konnten. Lenin und Swerdlow befahlen den Mord an der Zarenfamilie. Aus der versprochenen Befreiung des Proletariats wurde die Diktatur über das Proletariat. Lenin schloß im März 1918 Frieden mit den Mittelmächten, stieß aber selbst in der eigenen Partei auf Widerstand. Die hehren Ziele der Revolution mündeten schließlich nach dem Bürgerkrieg in die unumschränkte Diktatur Stalins.

 

Dr. Heinz Magenheimer ist Militärhistoriker und lehrte an der Landesverteidigungsakademie Wien und an der Universität Salzburg.


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