© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/07 09. November 2007

Schwarzweiß mit Zwischentönen
Bildmächtiges Zeugnis ohne Zensuren: "Gewendet" präsentiert dieselben Schauplätze vor und nach der deutschen Einheit
Christian Dorn

Die geschlossene Grenze produziert Geschichten am laufenden Band, gigantische und banale." Dieser Satz Lutz Rathenows ist für Leser dieser Zeitung von eigener Historie: entstammt er doch einem Text des Autors mit dem Titel "Die Zukunft der Mauer", der bereits im Januar 1988 in der JUNGEN FREIHEIT erschienen war. Götz Kubitschek dokumentiert diese Trouvaille, die "aus dem 'heiteren Himmel' Ost-Berlins in die JF-Redaktion flatterte", in seinem JF-Jubiläumsband.

Ein Jahr zuvor, 1987, hatten der Fotograf Harald Hauswald und der Schriftsteller Lutz Rathenow ihren bald schon legendär gewordenen Text-Bildband über die sogenannte Hauptstadt der DDR im Piper-Verlag, München, veröffentlicht (JF 12/06). Ihr "Ost-Berlin"-Buch bildete erstmals die nicht-offizielle Seite des realsozialistischen Alltags ab. Die Motive Hauswalds, ergänzt um die lakonischen Reflexionen Rathenows, begründeten rasch das internationale Ansehen des Duos. Die Stasi reagierte, indem sie Hauswald Besuchsreisen in den Westen gestattete, während Rathenow zu Hause bleiben mußte - eine Praxis, die der einstige DDR-Dissident Jürgen Fuchs als "Reise-Apartheid" beschrieb  und die darauf abzielte, zwischen den Beteiligten Zwietracht zu säen.

Wenngleich dies erfolglos blieb, vermochten die DDR-Behörden den Nachdruck des rasch vergriffenen Buches zu verhindern. Gekennzeichnet von einer abenteuerlichen Editionsgeschichte war der Band jahrelang vergriffen blieb, bis ihn der Berliner Jaron-Verlag in einer - wiederum veränderten - Fassung erneut zugänglich machte. Es ist die mittlerweile vierte Ausgabe des Buches.

Die unverminderte Begeisterung für dieses Dokument scheint nicht zuletzt dem Diktum Ulrich Schachts Rechnung zu tragen, der dem "Ost-Berlin"-Buch seinerzeit prophezeite, noch in fünfzig Jahren "wichtig zu sein". In Luxemburg gehört es inzwischen zur Schullektüre. So schien es naheliegend, eine Fortschreibung ins Heute zu versuchen. Ergebnis dessen ist der Titel "Gewendet", der "Fotos und Texte aus dem Osten" versammelt. Hauswald, der mit seinen Aufnahmen in unwiederbringlichen Momenten das Leben in der Spätphase der DDR, vor allem jenes in Ost-Berlin, eingefangen hat, präsentiert hier die Wandlung dieser Schauplätze in der Gegenwart - nicht zufällig erhielt er hierfür 2006 den Bürgerpreis zur Deutschen Einheit. Ein eindrücklicheres Geschichts- und Geschichten-Buch läßt sich kaum denken.

Entsprechend ist die Komposition des Bandes, in dem die alte Aufnahme (linke Seite) mit der neuen (rechte Seite) konfrontiert wird. Nicht selten liegen mehr als 20 Jahre zwischen den Bildern, etwa bei einer Aufnahme vom Dresdner Altmarkt, wo ein Schaufenster aus dem Jahr 1984 demselben im Jahr 2005 gegenübergestellt wird. Während ersteres mit einer Pyramide aus "Trink fix"-Dosen ungewollt die Mangelwirtschaft des realsozialistischen Alltags vor Augen führt, präsentiert die Auslage heute zahllose Uhren. Ihr Anblick erinnert an ein Zitat Christoph Dieckmanns zum Ende der DDR: "Die Zeit stand still, die Lebensuhren liefen." Dabei, das zeigen die Bilder, bedurfte es immer wieder des besonderen Blicks, um mittels eines einzigen Fotos zugleich ein Zeitdokument zu schaffen, das mehr sagt als das, was darauf enthalten ist, kurz: Das Ganze ist hier mehr als die Summe seiner Teile.

Kennzeichen von Hauswalds Bildern ist, daß die Menschen in ihnen immer ihre Würde behalten; der Blick ist nicht denunziatorisch, ausgestellt wird vielmehr die Situation. Fremden mögen die Bilder eine Ahnung davon geben, wie die achtziger Jahre der DDR tatsächlich gewesen sind. Für jemanden, der dort aufwuchs, ist es dagegen eine - im wahrsten Wortsinn - eigentümliche Wahrnehmung. Es ist nichts weniger als die visuelle Wiederaneignung der eigenen Geschichte. Mit dieser Rückversicherung verbunden scheint ein erlösender Distanzgewinn, eignet doch zahlreichen Aufnahmen Hauswalds eine befreiende Komik, welche die Absurdität des DDR-Systems in zwar typischen, aber dennoch einmaligen Momenten aufhebt. Seine Bilder legen Zeugnis ab, so Rathenow, "ohne Zensuren zu verteilen". Auch Rathenow enthält sich dessen in seinen erhellenden Reflexionen. Seine pointierten Beobachtungen und protokollierten Gesprächsfetzen von der Straße aus den Jahren 1989/90 lohnen allein schon die Lektüre.

Harald Hauswald/Lutz Rathenow: Gewendet. Vor und nach dem Mauerfall: Fotos und Texte aus dem Osten. Jaron-Verlag. Berlin 2006, gebunden, 121 Seiten, 19,90 Euro

Harald Hauswald/Lutz Rathenow: Ost-Berlin. Leben vor dem Mauerfall / Life before the Wall fell. Jaron-Verlag, Berlin 2005, zweite, verbesserte Auflage, Deutsch-Englisch, kartoniert, 12 Euro

Fotos: Hinterhof an der Kastanienallee in Berlin-Prenzlauer Berg 1983 (links) und 2005 (unten):´Eine spannende Kulisse für ganz eigene Inszenierungen; Schaufenster am Dresdner Altmarkt 1984 (oben) und 2005 (rechts):  "Das Sein bestimmt das Bewußtsein", hatten wir von Karl Marx gelernt


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