© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/07 09. November 2007

Von der sozialen zur rassischen Vernichtung
Ernst Nolte im zweiten Teil seines Interviews "90 Jahre Oktoberrevolution" über Kommunismus und Nationalsozialismus
Moritz Schwarz

Vor neunzig Jahren sprengte die Oktoberrevolution in Rußland die weltanschauliche und geopolitische Tektonik Europas. Ernst Nolte hat sich zeit seines Lebens eingehend mit diesem Phänomen befaßt. In der letzten Ausgabe (JF 45/07) ging der Historiker im ersten Teil des Interviews der Frage nach, was von diesem "geschichtlichen Vulkanausbruch" geblieben ist, der durchaus als die ideologische Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts betrachtet werden kann. Sind etwa auch der Nationalsozialismus und die Vernichtung der europäischen Juden als hypertrophe Reaktion auf den Schock zu betrachten, den Chaos und Greuel der Oktoberrevolution auslösten?

 

Herr Professor Nolte, wenn das Europa der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg tatsächlich so sehr durch den Kommunismus gefährdet war, erscheint es da nicht nachvollziehbar, daß sich Sympathien für den Nationalsozialismus einstellten, der sich am konsequentesten dem entgegenstellte.

Nolte: Es ist nach meiner Überzeugung tatsächlich aus den Zeitumständen heraus nachvollziehbar, daß Adolf Hitler glaubte, nur ein "Antibolschewismus von bolschewistischer Entschlossenheit" habe einem so ungeheuren Phänomen gegenüber eine Siegeschance. Aber von Anfang an existierte auch die Gegenthese: Wer sich der über die Realität hinausgreifenden Utopie auf radikale Weise entgegenstellen wollte, der mußte zu einer paradoxen "Utopie der Realität" gelangen, nämlich zu dem radikalfaschistischen Idealbild der im Kern unveränderbaren kriegerischen und nach Rangstufen geordneten Gemeinschaften, das mit der Gesellschaft des liberalen Systems ebenso unvereinbar ist wie die Utopie der konfliktfreien Menschheitsfamilie. Vor allem aber mußte er in der Nachahmung des Feindes so weit gehen, gegenüber einem andersartigen Feind eine ähnliche Art von Vernichtungswillen an den Tag zu legen, wie es der ursprüngliche Feind gegenüber dem Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft tat. Da diese Feinderklärung aber nicht der allmenschlichen und überzeitlichen Utopie gelten konnte, mußte sie sich gegen deren angeblichen Urheber richten, nämlich "den Juden". Damit trat an die Stelle der "sozialen" Vernichtungskonzeption eine "biologische" oder "rassische", und es entstand eine neue Qualität, welche die Kennzeichnung der "Einzigartigkeit" verdient, obwohl sie sich unter dem quantitativen Gesichtspunkt mit jener "sozialen" Vernichtung nicht messen konnte. Die radikale Gegenposition war also selbstzerstörerisch, und das Vertrauen auf die Selbstbehauptung des Systems konnte sich daher nur auf ein stärkeres und erst noch zu entwickelndes Selbstgefühl stützen, das bei aller Distanz auch aus der radikalen Gegenposition Nutzen zu gewinnen vermochte.

Folglich ist der Begriff des "jüdischen Bolschewismus" gegenstandslos?

Nolte: Das Wissen um die große Überproportionalität von Menschen jüdischer Abkunft in der Führung der bolschewistischen Partei ist für jeden Kenner der Materie selbstverständlich. Aber eine solche Überproportionalität war auch in den Führungen der menschewistischen und der sozialrevolutionären Partei zu verzeichnen, und sie erklärt daher "das Bolschewistische" nicht. Im übrigen hätte man während der Weimarer Zeit auch von der "jüdischen Zahnmedizin" sprechen können, denn der Anteil der Studenten jüdischer Abkunft betrug etwa fünfzig Prozent. Allerdings war der Kampf für "soziale Gerechtigkeit" gerade nach Aussagen in der jüdischen Literatur ein Hauptmerkmal der Propheten des Alten Testaments, und es wäre sonderbar gewesen, wenn sich nicht eine beträchtliche Anzahl von Juden für eine Partei engagiert hätte, welche die Herstellung der sozialen Gerechtigkeit für ihr Hauptziel erklärte. Andererseits waren Juden, und zwar ganz überwiegend säkularisierte Juden, unter den zur Vernichtung bestimmten Unternehmern und ganz allgemein im Bürgertum in noch höherem Maße vertreten. Die Juden befanden sich also dem Kommunismus gegenüber in einer ausgesprochen tragischen Situation.

Hat sich der Kommunismus am Ende nicht lediglich als russischer Nationalismus entpuppt?

Nolte: Wer die einschlägigen Äußerungen Stalins und Molotows in den Jahren 1940/41 etwa über den bevorstehenden Endkampf des Kommunismus gegen "die dekadente Bourgeoisie" kennt, wird von dem Eigengewicht der Ideologie eine höhere Meinung haben. Ich bin der Auffassung, daß Stalin die Sowjetunion vielmehr als Festung des Kommunismus im bevorstehenden Kampf um den "Weltsozialismus" betrachtete und viel Grund hatte, mit Zuversicht auf die rüstungs- und ressourcenmäßige Überlegenheit der in allen Aggressionen nach dem Stalin-Hitler-Pakt so erfolgreichen Sowjetunion zu blicken. Erst die unerwarteten Anfangssiege des deutschen Heeres und die unübersehbaren Ansätze der Unterdrückungs- und Lebensraumpolitik schufen die Voraussetzungen für das paradoxe Zustandekommen des "demokratischen Weltbündnisses" der Sowjetunion mit den kapitalistischen Mächten Großbritannien und USA.

In zahlreichen Dritte-Welt-Ländern wurde im 20. Jahrhundert allerdings genau diese Interpretation des Kommunismus gepflegt.

Nolte: Die nationalen sozialistischen Tendenzen wie etwa der "arabische Sozialismus" Gamal Abdel Nassers hatten in der Tat noch eine bedeutende Zukunft vor sich. Aber man sollte sie nicht "kommunistisch" und auch nicht "nationalkommunistisch" nennen, und Hitlers "Nationalsozialismus" ist weit besser unter dem Begriff "Radikalfaschismus" zu subsumieren.

In Rußland und in großen Teilen Osteuropas hat nach dem Sturz des Kommunismus - anders als in Deutschland - offenbar keine "Vergangenheitsbewältigung" stattgefunden.

Nolte: Nein, die "Vergangenheitsbewältigung" in Rußland ist echter und autonomer als in Deutschland, wenn man die Bücher von ehemaligen hohen Funktionären des Regimes wie Dimitrij Wolkogonow und Alexander Jakowlew vor Augen hat. Daß in Osteuropa jemals das Bewußtsein der zeitlichen Differenz zwischen den Vernichtungsmaßnahmen des sowjetischen und des nationalsozialistischen Regimes infolge der Übermacht der von den USA kommenden geschichtspolitischen Einwirkungen völlig dahinschwindet, wie auch manchmal behauptet wird, halte ich für wenig wahrscheinlich: Das Bewußtsein für den qualitativen Unterschied kann erst allmählich entstehen, doch es dürfte schwerlich einen solchen Vorrang gewinnen und ein solches Verdrängen zur Folge haben wie in Deutschland.

Wenn der Nationalsozialismus zu einem wesentlichen Teile aus der Reaktion auf die Massenverbrechen des sowjetischen Kommunismus entstanden ist und wenn zahlreiche Menschen in Europa und der Welt an diesem Schock litten, wie ist es dann zu erklären, daß diese Verbrechen heute vielfach fast "vergessen" sind und daß es statt eines Antitotalitarismus nur noch einen Antifaschismus gibt? Warum steckt in dem Erschrecken über den Nationalsozialismus Hitlers nicht auch immer das Erschrecken über dessen wichtigste Ursache oder mindestens Vorbedingung, den Sowjetkommunismus Lenins und Stalins?

Nolte: Ganz so vergessen sind diese Massenverbrechen nicht, aber sie sind nach 1991 mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt worden. Darin kommt der bedenkenswerte Umstand zum Vorschein, daß geistige Verwandtschaften reale Tatsachen gleichsam überspielen können. Der Kommunismus vermag von der trotz aller Unterschiede vorhandenen "gesamtlinken" Solidarität zu profitieren, während eine "gesamtrechte" Solidarität, wenn es sie überhaupt gibt, den Nationalsozialismus nicht einbeziehen kann, und zwar hauptsächlich wegen jener qualitativen Differenz, deretwegen der quantitative Unterschied und die zeitliche Differenz als weniger wichtig betrachtet werden. Aber es kommen natürlich noch weitere Faktoren hinzu wie vor allem die unmittelbaren Auswirkungen des militärischen Sieges der "demokratischen Weltkoalition" zwischen Stalin, dem linksliberalen Roosevelt und dem im Ersten Weltkrieg so scharfen Antikommunisten Churchill. Von erheblichem Gewicht war auch die Tatsache, daß der Gulag so weit von Europa und Deutschland entfernt war und daß zu seinen Opfern so viele Menschen zählten, die noch Analphabeten oder kaum über den Analphabetismus hinausgelangt waren und die ihre Erfahrungen daher nicht zu artikulieren vermochten. Freilich hätte gerade dieser Umstand bei fast allen Linken sehr prononcierte Reaktionen hervorrufen müssen. Aber mehr noch als das Vergessen ist das Vergessenwollen eine große Macht.

Was bleibt von Europa nach dem Untergang von Kommunismus und Faschismus geschichtlich gesehen noch übrig?

Nolte: Trotz aller zeitweiligen Niederlagen bleiben Europa und sein System, die so etwas wie "reales Überschreiten" - oder um einen philosophischen Begriff zu verwenden, "praktische Transzendenz" - in die Welt gebracht haben, der Hauptschauplatz für die sich abzeichnende Auseinandersetzung. Die Auseindersetzung zwischen einem "Überschreiten", das auch den Menschen selbst zum bloßen Material seiner eigenen Intelligenz macht  - und insofern hinter sich läßt -, und einem "Überschreiten", das den "historischen Menschen" nicht fortstößt, sondern inmitten aller Veränderungen an ihm festhält.

Müßte in dieses Nachdenken eigentlich nicht auch der Islam und der Islamismus einbezogen werden?

Nolte: Davon bin ich in der Tat überzeugt. Bekanntlich hat der französische Soziologe Jules Monnerot den Kommunismus als den "Islam des 20. Jahrhunderts" bezeichnet. Wenn man die Reihenfolge umkehrt und den Islamismus - nicht den Islam - versuchsweise als den "Kommunismus des 21. Jahrhunderts" charakterisiert, wäre ein guter Ausgangspunkt für die Erweiterung der Fragestellung erreicht worden.

 

Prof. Dr. Ernst Nolte gehört zu den großen Geschichtsdenkern des 20. Jahrhunderts. Er beschäftigte sich zeit seines Lebens intensiv mit der totalitären Herausforderung Europas im 20. Jahrhundert. Mit Werken wie "Der Faschismus in seiner Epoche" (1963) oder "Der europäische Bürgerkrieg 1917 bis 1945" (1989) revolutionierte er das Verständnis von Kommunismus und Nationalsozialismus, indem er die enge historische Verknüpfung der beiden Phänomene aufzeigte. Geboren wurde der Berliner Historiker 1923 in Witten.

Foto: Sowjetisches Propagandaplakat feiert die Oktoberrevolution (1944): "Die russische Vergangenheitsbewältigung ist echter und autonomer als unsere"

 

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