© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/07 23. November 2007

Das Glück, am Leben zu sein
Das Museum Europäischer Kulturen zeigt eine Ausstellung zu Zerstörung und Neubeginn 1945
Gerhard Vierfuss

Bisher eher unbeachtet in der deutschen "Erinnerungsarbeit" ist -von Vertreibung oder Kriegsgefangenschaft vielleicht abgesehen - die unmittelbare Zeit nach dem totalen Zusammenbruch 1945, die für nur wenige eine Befreiung, für die meisten Deutschen jedoch den Aufbruch in eine völlig ungewisse, von seelischer und materieller Not geprägte Zukunft in einem zerstörten Land bedeutete. Eine Ausstellung im Berliner Museum Europäischer Kulturen widmet sich eben dem "Über-Leben in Umbruchzeiten 1945". Die Schau über "Die Stunde Null" beginnt allerdings bei minus eins. Gleich im ersten Raum, der zwar von einem wandgroßen Foto aus dem zerstörten Berlin dominiert wird, stellen die Exponate sicherheitshalber erst einmal von vornherein klar, wer die ausschließliche Verantwortung für diese deutsche Katastrophe trägt: Deutschland bzw. Adolf Hitler. Eine Fernsehdokumentation klärt den Betrachter über die alleinige Kriegsschuld Deutschlands auf; Fotos, Dokumente und Berichte über Einzelschicksale informieren über den von den Nationalsozialisten ausgeübten Terror bis hin zum Massenmord am jüdischen Volk.

Der zweite Raum führt den Besucher zunächst noch weiter zurück in der Geschichte: Unter dem Titel "Erzwungene Wege" findet sich eine umfassende Darstellung der staatlich verordneten Umsiedlungen eigener und fremder Volkszugehöriger, von "Bevölkerungstransfers" und Deportationen, von Flucht und Vertreibung seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa. Neben mehreren großformatigen Landkarten gibt eine umfangreiche Diaprojektion eine zusammenhängende Darstellung seit den Balkankriegen 1912/13. Darin wird das Gesamtphänomen letztlich zurückgeführt auf die Entstehung des Nationalstaats: "Der im Nationalstaat wurzelnde Gedanke, durch Trennung und Umsiedlung von Nationen (...) Frieden zu schaffen, mündete im Mord des nationalsozialistischen Deutschland an den europäischen Juden." In dieses Erklärungsmodell wird dann aber auch überraschend stringent die Vertreibung der Deutschen aus den früheren Ostprovinzen des Deutschen Reiches eingegliedert: Es sei "abwegig, in ihr eine bloße Reaktion auf die nationalsozialistische Rassen, Eroberungs- und Vernichtungspolitik zu sehen". Vielmehr handle es sich um das Ergebnis eines "komplizierten Wechselspiels" von Ursachen, zu denen neben den Interessen der Siegermächte eben auch der Nationalismus der Polen und Tschechen gehöre. Fotos von Flüchtlingstrecks und Berichte über Einzelschicksale ergänzen die Darstellung.

Nach dieser Umkreisung des Themas widmet sich die Ausstellung dann, thematisch mehrfach untergliedert, ihrem eigentlichen Gegenstand: dem Leben und Überleben im zerstörten Deutschland am Beispiel der Hauptstadt Berlin. Unter der Überschrift "Hunger" sieht man Fotos von Schwarzmärkten und vom Gemüseanbau im Berliner Tiergarten, man kann Lebensmittelkarten betrachten und verschiedene Kochbücher, die Schmalhans als Küchenmeister empfehlen. Die "Wohnungsnot" wird anschaulich gemacht durch Bilder von Menschen in Häusern, die keine Fassade mehr haben, und von Frauen, die von ihrer Küche nur den Herd retten konnten und unter freiem Himmel kochen.

Neben diesen allergrößten Bedrängungen hatten viele Menschen nach dem Kriegsende auch mit "Kleidungsnot" zu kämpfen. In einem Abschnitt zeigt die Ausstellung, wie findige Hausfrauen und Schneiderinnen es fertigbrachten, aus alten Lumpen wieder funktionsfähige und sogar ästhetisch ansprechende Kleidungsstücke herzustellen. Ein gesonderter Teil der Ausstellung widmet sich dem Leben der Kinder in der ersten Nachkriegszeit. Unter anderem werden die Schulaufsätze von 1.358 Kindern präsentiert, die Anfang 1946 in Berlin zu diesem Thema geschrieben wurden.

Unter der Überschrift "Das Glück, am Leben zu sein" zeigt die Ausstellung dann zahlreiche Fotos vom beginnenden Wiederaufbau: von Aufräumarbeiten inmitten von Trümmerlandschaften und immer wieder von steineklopfenden, steinetragenden Frauen. Alle diese Bilder strahlen Optimismus aus, die Freude über das Ende des Krieges und den Willen zum Neubeginn.

Diese Zukunftsgewandtheit kommt in noch stärkerem Maße in dem Abschnitt über den kulturellen Neubeginn zum Ausdruck. Hier empfängt den Besucher Musik von Jacques Offenbach aus der Aufzeichnung einer Inszenierung des "Pariser Lebens" durch Walter Felsenstein vom Dezember 1945. Bereits am 13. Mai 1945 hatte im Rathaus Schöneberg wieder das erste öffentliche Konzert stattgefunden; am 26. Mai spielten die Berliner Philharmoniker unter Leo Borchard im Steglitzer Titania-Palast. Bis Ende 1945 fanden in Berlin 121 Theaterpremieren statt. Ein Zitat von Friedrich Luft dient als Kommentar: Ob "der Drang vor die Bühnen" nicht "etwas Leichtfertiges und Frivoles" habe? - "Nein! Kunst ist notwendig gerade jetzt in der Not. Erst der Geist füllt das Leben."

In scharfem Kontrast zu dieser lebensbejahenden Haltung stehen dann gegen Ende der Ausstellung auch Werke von Künstlern, die sich mit dieser schweren Zeit in anderer Weise auseinandergesetzt haben: Radierungen und Gemälde von Gerda Rotermund und Paul Schultz-Liebisch sowie Skulpturen verschiedener polnischer Bildhauer. Fast ausnahmslos drücken diese Werke Trostlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung aus. Diese Gegenüberstellung läßt ahnen, welche ungeheure Verdrängungsleistung erforderlich war, um nach dem vollständigen Zusammenbruch Kraft für den Neuanfang zu gewinnen. Desto wichtiger zum Abschluß die Mahnung zur Erinnerung mit einem Gedicht von Erich Fried: "Gegen Vergessen".

Die Ausstellung "Die Stunde Null. ÜberLeben in Umbruchzeiten 1945" ist noch bis zum 6. Januar 2008 im Berliner Museum Europäischer Kulturen, Arnimallee 25 in Dahlem zu sehen; Kontakt: www.dmb.museum/mek

Foto: Wohnen in Ruinen, Berlin 1945: Tatkraft und Optimismus gingen mit Verzweifelung und Hoffnungslosigkeit einher


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