© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/07 07. Dezember 2007

Zornig und heimatlos
Multikulti: Der Aufstand in den französischen Vororten kündet vom Zerfall nationaler Identität
Alain de Benoist

Anders als die Krawalle, die im Herbst 2005 nahezu ganz Frankreich erfaßten, waren die neuerlichen Ausschreitungen im Pariser Vorort Villiers-de-Bel nach vier Nächten beendet. Aber diese vier Nächte hatten es in sich.

Erst sieben Stunden nach dem Verkehrsunfall auf dem Boulevard Salvador Allende, bei dem zwei jugendliche Einwanderer im Zuge einer Verfolgungsjagd durch ein Polizeiauto umkamen, konnte die Polizei sich wieder bis zur Unfallstelle durchkämpfe, um die üblichen Daten aufzunehmen. 130 Polizisten wurden bei den Straßenschlachten verletzt, darunter etliche durch Eisenstangen oder (erstmals in der Geschichte der Vorstadtunruhen) Schußwaffen Schwerverwundete. Neben brennenden Autos wurden auch eine öffentliche Bibliothek und ein Kindergarten angezündet.

Der Auslöser für die Unruhen mag variieren, doch verlaufen sie stets nach identischen Mustern. Jeder noch so geringfügige Zwischenfall, der Zweifel am Verhalten der Polizei aufkommen läßt, kann einen Flächenbrand auslösen - erst recht, wenn es dabei zum Tod eines "Jugendlichen" kommt. In den "rechtlosen" Zonen, in die sich die Ordnungshüter nur noch vorwagen, um Verhaftungen vorzunehmen, ist die Explosionsgefahr hoch. Mehr als alles andere fürchtet die Staatsgewalt deshalb "Schnitzer" seitens der Polizei. In Villiers-le-Bel wurde ein Polizeikommissar von einem Lynchmob krankenhausreif geprügelt, aus dem Körper eines anderen Polizisten mußten achtzehn Körner Bleischrot entfernt werden, ein weiterer verlor ein Auge. Hingegen wurde kein einziger Randalierer ins Krankenhaus eingeliefert. Immer wieder ist die Rede vom "Stadtkrieg", doch wird dabei eins vergessen: Es ist ein Krieg, bei dem die Polizei auf Befehl nicht zurückschlägt.

In der Nationalversammlung erklärte Ministerpräsident François Fillon, die Unruhen von Villiers-le-Bel seien "unbegreiflich". Das ist eine aufschlußreiche Aussage, enthüllt sie doch, wie wenig die politische Klasse die  Wirklichkeit versteht. So bleibt sie jegliche kohärente Antwort auf eine dramatische Situation schuldig, deren Entstehung sie seit über zwanzig Jahren zugelassen, wenn nicht sogar mitverantwortet hat. In ihrer Ratlosigkeit weiß sie sich nur durch die Verteilung von Fördermitteln zu behelfen. Beträchtliche Summen sind bereits in die Banlieues geflossen, ohne irgend etwas zu bewirken.

Aus Sicht der französischen Rechten handelt es sich um "Rassenkonflikte", die Linke sieht ihre Ursachen in "sozialen Problemen". Separat betrachtet irren beide. Zusammen aber haben sie recht. Angesichts von 99 Prozent jungen Schwarzen und Maghrebinern, die an den Unruhen beteiligt sind, wäre es Unsinn, den ethnischen Faktor unberücksichtigt zu lassen. Jedoch spielt eindeutig das soziale Umfeld eine Rolle als Beschleuniger kultureller Konflikte. In den als "schwierig" (oder auch "heikel") bezeichneten Stadtteilen liegt die Arbeitslosigkeit der unter 25jährigen durchschnittlich bei fast 50 Prozent. Die Familien sind zerrüttet, die "Parallel-" oder "Untergrundwirtschaft" floriert. Solange es für einen Jugendlichen einträglicher ist, eine Laufbahn als Drogendealer zu beginnen, statt einen normalen Beruf zu erlernen, wird sich daran nichts ändern.           

Seit dem 1. Januar 2003 sind die französischen Streitkräfte eine reine Freiwilligenarmee.  Daß der Wehrpflicht auch eine sozial integrative Funktion zukommt, hat man bei ihrer Abschaffung nicht bedacht. Pläne für einen obligatorischen "Zivildienst" wurden ebenfalls aufgegeben. Die heutige Gesellschaft ist außerstande, diesen Jugendlichen ein großes kollektives Projekt anzubieten, mit dem sie sich identifizieren könnten. 

Bei den Krawallmachern handelt es sich keineswegs um professionelle Revolutionäre (was zumindest politisches Bewußtsein und Überzeugungen voraussetzen würde), geschweige denn um islamistische Agitatoren. Es sind Jugendliche, für die Gewalt und Verbrechen zum Alltag geworden sind. Ohne Hoffnung auf eine Zukunft und belastet mit einer problematischen Vergangenheit leben sie allein für den Augenblick. Im Grunde verkörpern sie lediglich einen Aspekt des zeitgenössischen westlichen Nihilismus. "Diese Jugendlichen sind keine sich wehrenden Unterdrückten, sondern ein Symptom gesellschaftlicher Neurosen", diagnostizierte unlängst der Soziologe Alain Soral.

Von rechter Seite hört man des öfteren, sie seien "unassimilierbar". Ihnen gleichzeitig mangelnde Integrationsbereitschaft vorzuwerfen, ist ein wenig widersprüchlich. Worin sollen sie sich im übrigen integrieren? Tatsächlich sind sie bereits perfekt integriert - nämlich in das System von Konsum und Marktwirtschaft, dessen Ziele sie vollkommen teilen (ihr einziger Wunsch: Geld). Nicht integriert sind sie dagegen in einen Staat, der mehr wäre als die bloße Summe der auf seinem Territorium lebenden Individuen. "La France" hat über eine geographische Verortung hinaus keine Bedeutung für sie. Sie erkennen sich darin nicht wieder, viele von ihnen empfinden aus Prinzip Verachtung und Haß gegenüber allem, was ihnen als Symbol staatlicher Macht erscheint.

Viele Jugendliche mit Migrationshintergrund fühlen sich überhaupt nicht als Franzosen. Obwohl sie aufgrund des in Frankreich geltenden ius solis französische Staatsbürger sind, fühlen gerade die Jüngsten (und Gewalttätigsten) sich von der Gesellschaft ausgeschlossen und verabscheuen alles "Gallische". Bei Fußballspielen reagieren sie mit Pfeifkonzerten auf das Abspielen der Marseillaise. Dabei ist ihre Identifikation mit dem Herkunftsland ihrer Eltern oder gar Großeltern nur eine Wunschvorstellung. Hier fühlen sie sich nicht heimisch, finden aber auch anderswo keine Heimat. In Wahrheit gehören sie keiner anderen Kultur an als der Medienkultur oder dem Neo-Matriarchat der Warenwelt.

Die beiden Toten von Villiers-le-Bel, der 16jährige Lakami Samoura und der 15jährige Moshin Cehhouli, hatten die französische Staatsbürgerschaft. Trotzdem wurde der eine in Marokko und der andere im Senegal beerdigt.


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