© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/07 14. Dezember 2007

Politische Rücksichtnahme
Halberstadt: Der Prozeß um den Angriff auf eine Gruppe von Theaterschauspielern droht zur Farce zu werden / Verfahren vor Abschluß der Ermittlungen eröffnet
Christian Dorn

Vergangene Woche wurden die vier Tatverdächtigen, gegen die vor dem Landgericht Magdeburg wegen des Überfalls auf Schauspieler des Halberstädter Theaterensembles verhandelt wird, aus der Untersuchungshaft entlassen.

Unter ihnen befindet sich auch als Hauptangeklagter der 22 Jahre alte Christian W., der bereits ein Teilgeständnis abgelegt hat. Sein Haftbefehl wurde gegen Meldeauflagen außer Vollzug gesetzt. Deutschlandweit sorgte diese Wende im Prozeß, der am 19. Dezember fortgesetzt werden soll, für Aufsehen - bedeutet sie doch, daß bei den drei übrigen Angeklagten von seiten des Gerichts kaum mehr mit einer Verurteilung gerechnet wird. Voraussetzung hierfür war der Eröffnungsbeschluß des Richters Holger Selig, der den Antrag der Anklage auf gemeinschaftliche Täterschaft nicht zugelassen hatte. In diesem Fall hätten auch jene Angeklagten verurteilt werden können, denen die bloße Anwesenheit am Tatort nachgewiesen wird. Im vorliegenden Fall jedoch kann nur einem der drei weiteren Angeklagten überhaupt nachgewiesen werden, in der fraglichen Zeit vor Ort gewesen zu sein.

Damals, in der Nacht zum 9. Juni 2007, hatten 14 Schauspieler des Nordharzer Städtebundtheaters ihre Premiere der "Rocky Horror Picture Show" am Bergtheater Thale in der Halberstädter Kneipe "Spucknapf" weiterfeiern wollen. Dort waren sie abgewiesen worden mit der Begründung, daß bestimmten Personengruppen, darunter Punks, prinzipiell kein Zutritt gewährt werde.

So mußten die Schauspieler kehrtmachen, in deren Reihen sich auch der äußerlich als Punk erkennbare Alexander Junghans befand. Nachdem die Schauspieler über die Harmoniestraße gewechselt hatten, mußten sie an dem der Kneipe gegenüberliegenden Geisterhaus vorbeilaufen. Hier hatte sich die Gruppe der "Nazi-Schläger" aufgehalten, die in brutaler Weise auf sieben Schauspieler einschlugen und eintraten.

Besonders hart getroffen hatte es den Theaterdarsteller mit dem Irokesenschnitt. Sein Gesicht mit der gebrochenen Nase wanderte durch die deutschen Medien. Anfang November aber tauchte er in einem Polizeibericht auf. Bei einem Polizeieinsatz gegen die der linken Szene Halberstadts zugeordnete VEB Wohnfabrik wurde er kurzzeitig festgenommen. Die Polizei ermittelte gegen ihn wegen Widerstands gegen die Beamten, Beleidigung, Sachbeschädigung und Körperverletzung.

Daß der Prozeß in Magdeburg nun zu einer "Farce" zu werden droht, wie der Theaterintendant André Bücker unterstellt, liegt unterdessen wohl auch an politischer Rücksichtnahme. So war das Verfahren bereits vor Abschluß der Ermittlungsarbeiten eröffnet worden. Wohl nicht zuletzt deshalb sind jetzt nur vier Tatverdächtige angeklagt, obwohl nach Zeugenaussagen mindestens ein Dutzend "Rechte" die Theaterleute angegriffen haben müssen.

Die Eile in diesem Fall ist offensichtlich einer gesellschaftlichen Erwartungshaltung geschuldet. Denn um zu verstehen, warum die Empörung in Halberstadt so groß ist, gilt es an Himmelfahrt 2005 zu erinnern. An jenem Tag verwandelte sich der Bahnhofsvorplatz in Halberstadt in eine jener berüchtigten "no-go areas". Ein Schwarzafrikaner war von einer Handvoll Jugendlicher über den Platz gejagt worden. Ein Dutzend Passanten schaute zu, wie der Mann um sein Leben rannte. Der türkische Imbißbudenbesitzer wies ihm die Tür, die Taxifahrer weigerten sich, ihn mitzunehmen. Ein uniformierter Bundespolizist, der den Flüchtenden mit seinem Auto bergen wollte, wurde von den Tätern zusammengeschlagen.

Trotz nachfolgender "Verurteilung" mußte zunächst keiner der Täter ins Gefängnis. Erst unter dem Eindruck des Überfalls auf das Theaterensemble waren zwei der Täter im Juni dieses Jahres während des Revisionsverfahrens in Magdeburg zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden.


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