© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/07-01/08 21./28. Dezember 2007

Weltweite Super-Grippe
Pandemie und Katastrophenschutz: Um den H5N1-Virus ist es ruhig geworden - doch die Ruhe trügt
Michael Weis

Still ist es geworden um die Vogelgrippe. Hatten die Massenmedien in den vergangenen Jahren noch in regelmäßigen Abständen das Thema auf die Titelseiten gebracht, rangieren Berichte über den Ausbruch der Seuche - wie zuletzt in Polen oder im brandenburgischen Altglobsow - und Funde von toten Wildvögeln längst nicht mehr unter den absoluten Topmeldungen. Auch wenn zu erwarten ist, daß mit jedem neuen Gesetz über Stallpflicht oder Seuchenschutz und jedem Vogelzug die Geflügelgrippe als Thema wiederentdeckt wird, scheint sich die Mehrheit doch mit der Vogelgrippe als diffuser, unwirklicher Bedrohung abgefunden zu haben. Schließlich ist bisher alles gutgegangen. Weder ein unüberschaubarer Befall von Nutztieren noch eine Pandemie - also eine globale Massengrippe - haben Europa getroffen. Kein Deutscher starb bislang an der Vogelgrippe. So fällt es sichtlich leicht, sich einzureden, daß auch zukünftig alles gutgehen wird. Außerdem scheint es doch, als hätten die Behörden in Deutschland aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und seien heute auf große Grippewellen und einen umfassenden Katastrophenfall besser vorbereitet denn je.

Diese Vorstellungen sind falsch! Die Gefahr einer weltweiten Masseninfektion ist keineswegs gebannt. Im Gegenteil, sie wächst mit jedem Tag. Dabei ist die bekannte Variante des Vogelgrippevirus H5N1 weiterhin einer der bedrohlichsten Virenstämme, da er hoch infektiös ist, sich schnell verbreitet und in unglaublicher Geschwindigkeit mutiert. Mittlerweile ist eine als Ema-Stamm bezeichnete europäische Virusvariante entstanden, die sich wiederum in verschiedene Subtypen aufgespalten hat und in der Konsequenz schwer zu bekämpfen ist. Insgesamt sind derzeit 15 H- und 9 N-Varianten zuzüglich einer Vielzahl von Subtypen bekannt. Infektionen beim Menschen sind demnach auch in Europa nur noch eine Frage der Zeit. Weltweit infizierten sich schließlich laut der Weltgesundheitsorganisation WHO zwischen 2003 und 2007 bereits mindestens 331 Menschen mit H5N1, von denen 203 an den Influenza-Viren respektive den Folgen der Krankheit starben.

Die Vogelgrippe ist eigentlich alles andere als ein neues Phänomen. Sie ist seit Jahrhunderten bekannt und trat schon immer sowohl bei Wildvögeln als auch bei Nutztieren auf. Wegen ihres (besonders bei Massenhaltungen) äußerst ansteckenden, rasch tödlichen Verlaufs wird sie im Volksmund auch Geflügelpest genannt. Über Kot und Sekrete überträgt sich der Erreger von Tier zu Tier und konnte in Ausnahmefällen schon immer den Menschen direkt infizieren. Hinzu kam stets die Möglichkeit einer indirekten Infektion über den Verzehr rohen Geflügelfleisches oder den Kontakt mit anderen infizierten Tierarten, die als Überträger - also Vektoren - fungieren können (z. B. Katzen oder Hunde).

Infektionen von Einzelpersonen waren in der Vergangenheit allerdings meist kein großes Problem, da sich die Viren nicht von Mensch zu Mensch übertrugen und die Infizierten in der Regel nur mit einer sehr begrenzten Gruppe an weiteren Personen in Kontakt kamen - so der eigenen Familie oder der Dorfgemeinschaft. In Zeiten der Globalisierung und des weltweiten Massenverkehrs haben sich die Bedingungen nunmehr geändert.

Die letzte Influenza-Pandemie liegt neunzig Jahre zurück

Die unterschiedlichsten, lokal entwickelten Virenstämme können via Straße, Eisenbahn, Schiff oder Flugzeug binnen kürzester Zeit in die entlegensten Regionen der Erde gelangen und sich dort mit anderen Stämmen zu völlig neuen Viren verbinden. Diese weisen dann bisher unbekannte Eigenschaften auf. Verbindet sich beispielsweise ein aggressives Schweinevirus mit einem menschlichen Virenstamm - der vielleicht nur einen einfachen Schnupfen auslösen würde -, entsteht unter Umständen eine Krankheit, die Tier und Mensch gleichsam befällt, gegen die das Immunsystem noch kein Mittel zur Verfügung hat und die sich so schnell wie ein Schnupfen verbreitet. Würde etwas ähnliches bei H5N1 geschehen, sich also der Virus mit einem einfachen, leicht übertragbaren menschlichen Grippevirus verbinden, so könnten binnen kurzer Zeit Millionen den Virus in sich tragen.

Derartige Super-Viren gab es bereits, und Bernhard Ruf, der Präsident der Deutschen Infektionsbiologischen Gesellschaft, erklärte erst kürzlich, die Menschheit könne sich glücklich schätzen, wenn sie die nächsten zehn Jahre ohne Pandemie überstünde. Die letzte Influenza-Pandemie, die mit der früher oder später bevorstehenden zu vergleichen ist, liegt schließlich schon fast 100 Jahre zurück. 1918 tötete die "Spanische Grippe" fast 50 Millionen Menschen. Auch sie basierte auf einem Vogelgrippe-Virus.

Bei der inzwischen stark gewachsenen Weltbevölkerung und der erhöhten Reisetätigkeit würde eine derartige Pandemie heute laut Schätzungen der WHO bis zu 150 Millionen Opfer fordern. Die Zahl der Infizierten wäre unüberschaubar. Das Robert-Koch-Institut (RKI) ging in dem 2005 für Bund und Länder ausgearbeiteten Nationalen Influenza-Pandemieplan von einer Infektionsrate von mindestens 30 Prozent der deutschen Bevölkerung und 360.000 Krankenhauseinweisungen aus. Der weltweite volkswirtschaftliche Schaden betrüge Schätzungen der Weltbank zufolge 680 Milliarden Euro. Deutschlands Bruttoinlandsprodukt sänke, je nach Stärke der Grippewelle, um ein bis vier Prozent, was nach heutigem Stand einem Schaden von etwa 20 bis 90 Milliarden Euro entspräche.

Nordrhein-Westfalen zeigt sich vorbildlich

Trotz dieser akuten und nicht zu unterschätzenden Gefahr und trotz der durch die WHO ausgerufenen höchsten Warnstufe sind wir auch nach über vier Jahren H5N1 in der öffentlichen Diskussion - entdeckt wurde der Erreger bereits 1996 - fast völlig unvorbereitet. Dies gilt sowohl für die Prävention als auch für die akute Reaktion im Ernstfall.

Ein wirksamer Impfstoff fehlt nach wie vor und müßte im Falle einer beginnenden weltweiten Infektion ohnehin an den jeweiligen Erreger angepaßt werden. Selbst wenn dies schnell gelänge, könnten nach aktuellem Stand jedoch nur rund vier Prozent der Weltbevölkerung rechtzeitig geimpft werden, da nicht genügend Produktionskapazitäten vorhanden wären. Dies reicht, wie der Marburger Virologe Hans-Dieter Klenk in einem Interview unlängst klarstellte, "hinten und vorne nicht."

Somit bleiben Neuraminidiase-Hemmer - die eine Ausbreitung von Viren im Körper verlangsamen oder gar stoppen können - das einzige momentan denkbare, zur Verfügung stehende und wirksame Mittel, um die menschliche Immunabwehr beim Kampf gegen ein Super-Virus zu unterstützen. Doch Medikamente wie Tamiflu und Relenza sind nur im Anfangsstadium der Infektion wirklich von Nutzen. Werden sie binnen 48 Stunden nach der Infektion verabreicht, liegt ihre Effektivität gar bei 70 bis 90 Prozent. Hat sich das Virus bereits stark im Körper ausgebreitet, sinken die Erfolgschancen einer Behandlung rapide und eine Medikamentierung wird nahezu sinnlos. Zudem verfügt längst nicht jedes Bundesland über ausreichende Mengen an Neuraminidiase-Hemmern.

Auch wenn der Nationale Influenza-Pandemieplan die Bevorratung von Grippemitteln für mindestens 20 Prozent der Bevölkerung vorsieht, haben viele Länder diese noch immer nicht in ausreichendem Maße beschafft. Thüringen hatte 2006 gerade einmal Kapazitäten zur Versorgung von 7,7 Prozent der Bevölkerung. Hamburg und Bremen - die als Stadtstaaten eigentlich mit einer raschen Ausbreitung von Infektionen rechnen müssen - könnten im Notfall nur 11,2 beziehungsweise 12 Prozent der Bevölkerung mit Neuraminidiase-Hemmern versorgen. Einzig das Bundesland Nordrhein-Westfalen zeigt sich mit eingelagerten Medikamenten für dreißig Prozent der Landeskinder vorbildlich.

Gefahrenabwehr ist Aufgabe der Bundesländer

Neben fehlenden Arzneimitteln wäre Deutschlands größtes Problem im Ernstfall der mangelhafte Katastrophenschutz, dem es an finanziellen und personellen Mitteln genauso fehlt wie an zentraler Organisation. Da nach Art. 70 des Grundgesetzes die Gefahrenabwehr im Katastrophenfall Aufgabe der Länder ist, findet eine Koordination nur im Bereich allgemeiner Absprachen statt. In Notfällen wird zunächst jedes Land eigenständig aktiv und muß auf größere Zusammenhänge eigentlich keine Rücksicht nehmen. Gegenseitige Hilfe in größerem Rahmen findet nur auf Anforderung oder infolge zuvor geschlossener Vereinbarungen statt. Darüber hinaus haben die Länder die Ausstattung des Katastrophenschutzes lange in sträflicher Weise vernachlässigt. Man verließ sich in weiten Teilen auf das vom Bund aufgestellte Technische Hilfswerk mit seinen gerade einmal 850 hauptamtlichen Mitarbeitern. Als Hintertür hielt man sich die Möglichkeit offen, im Notfall die Bundeswehr zur Hilfe zu rufen.

Die Mängel dieser Politik zeigten sich zuletzt eindrucksvoll am Beispiel der Vogelgrippe auf Rügen. In dilettantischer Weise geschah zunächst nichts und dann zu wenig, wie Experten im nachhinein feststellten.

All dies, obwohl Vorsorge gepaart mit entsprechenden Hygiene-Notfallplänen das einzige Mittel ist, um wenigstens das Schlimmste zu verhindern. Nach einer Modellrechnung des RKI könnten bei 30prozentiger Infektionsrate bis zu 50.000 Tote und 180.000 Krankenhauseinweisungen vermieden werden. Dafür bedarf es jedoch aller vorstellbaren Anstrengungen zur schnellen und effektiven Notfallversorgung und eines umfassend einsatzbereiten Katastrophenschutzes. Beides ist aber in Deutschland noch immer nicht vorhanden. Auch wenn sich die seit 2004 jährlich stattfindende Landesübergreifende Krisenmanagementübung (LÜKEX) 2007 der Pandemieabwehr widmete und bereits kurz nach dem 11. September 2001 die Mittel für den Katastrophenschutz aufgestockt wurden, bleibt Deutschland nach wie vor weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Die Zeche dafür werden - wie so oft - wohl nicht die verantwortlichen Entscheidungsträger zahlen, sondern die gesamte Volkswirtschaft und die Menschen, welche ihr Leben aufgrund heute schon vermeidbarer Fehler verlieren werden.

Informationen zum Themengebiet Influenza und Vogelgrippe findet man beim Robert Koch-Institut (Tel.: 030 -18754-0), der zentralen Einrichtung der Bundesregierung auf dem Gebiet der Krankheitsüberwachung und -prävention. Unter www.rki.de finden Interessierte Antworten auf häufig gestellte Fragen, die aktuelle Einschätzung zur Vogelgrippe sowie eine Übersicht über die Pandemiepläne der Bundesländer.


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