© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/07-01/08 21./28. Dezember 2007

"Ehrwürdige Null, hölzerner Titan"
Ab-Arbeiten am Mythos: Neuerscheinungen über den "Retter von Tannenberg" und späteren Reichspräsidenten Paul von Hindenburg
Tim Lange / Matthias Bäkermann

Schon 1932, zu seinem 85. Geburtstag, begann Walter Bloems "Hindenburg der Deutsche" im "Ersten Satz" mit einem Verweis auf die "Spezialbibliothek", zu der die Literatur über den Feldmarschall-Präsidenten angewachsen sei.

Dessenungeachtet sind seitdem weiter unverdrossen Hindenburg-Biographien produziert worden. Nur ein "großer Wurf", vergleichbar etwa Joachim Fests "Hitler", ist nicht darunter. Dafür fehlte Autoren wie dem Publizisten Walter Görlitz (1953) oder Werner Maser (1989) mehr als nur das darstellerische Talent. Wie bei den "Borussen" Erich Marcks (1932), Fritz Hartung (1934), Walther Hubatsch (1965) oder den "Anti-Preußen" Rudolf Olden (1935), Emil Ludwig (1935) und John Wheeler-Bennett (1939), zu schweigen von dem SED-Mann Wolfgang Ruge (1975), mangelt es der gesamten Hindenburg-Literatur überdies an kritischer Distanz, schafft es kaum ein Autor, seinen Helden der Parteien Haß und Gunst zu entziehen, um damit selbst aus der Rolle des "Anklägers" oder "Apologeten" herauszukommen.

Ginge es nur nach dem Umfang, ist dem Stuttgarter Zeithistoriker Wolfram Pyta nun der so lange ausgebliebene "große Wurf" gelungen: auf 900 Textseiten zuzüglich 200 Seiten Anmerkungen und Bibliographie. Schon der Gegenstand schließt zwar aus, daß Pyta sich mit Fest messen kann, aber immerhin: Es ist die wissenschaftlich gründlichste und beste Lebensgeschichte, die wir über den vermeintlichen "Sieger von Tannenberg" besitzen, und sie dürfte auch dann von niemandem übertroffen werden, wenn die Familie sich einst entschließen sollte, den Nachlaß ihres Ahnen der Forschung zur Verfügung zu stellen.

Angesichts dessen, was sich heute noch anhand der erst nach der Pensionierung einsetzenden Karriere eines wilhelminischen Generals zeithistorisch kontrovers diskutieren ließe, scheint Pytas Arbeit sogar überdimensioniert. Denn woran könnte sich Streit entzünden? Daran, ob Hindenburg zu Beginn des Ersten Weltkrieges eine zaristische Armee bei Tannenberg schlug oder ob dies vielmehr das Verdienst seines Stabchefs Erich Ludendorff war? Pyta macht in diesem endlosen Disput, in dessen Verlauf sich zuletzt Maser und Walter Rauscher (1997) für Hindenburg ins Zeug warfen, kurzen Prozeß, mit revisionsfesten Begründungen. Eine "nüchterne Betrachtung" werde dem 1. Generalstaboffizier der 8. Armee, Oberstleutnant Max Hoffmann, und Ludendorff, "und zwar in dieser Reihenfolge", die "Haupturheberschaft" am ostpreußischen "Cannae" zusprechen müssen. Hindenburgs Anteil an Planung und Ausführung "tendiert gegen null".

Auch in den folgenden Spitzenämtern, in die er, getragen vom Ruhm des "Russenschrecks", als "Oberbefehlshaber Ost" und ab August 1916 an der Spitze der Obersten Heeresleitung (OHL) einrückte, attestiert ihm Pyta günstigenfalls "militärisches Mittelmaß". Ludendorff, der ihm als Generalquartiermeister auch in der OHL zur Seite stand, ist der eigentliche "Kriegsherr" im "Weltkampf" des deutschen Kaiserreichs. Ihn trifft daher im Oktober 1918 auch die ganze Schuld an der Niederlage. Ludendorff muß gehen, Hindenburg, die "ehrwürdige Null" (Hans Delbrück), darf als "Garant des Übergangs" zur Republik bleiben.

So ist er entscheidend an zwei zentralen politischen Weichenstellungen beteiligt: der Abdankung Kaiser Wilhelms II. am 9. November 1918 und, am Ende seines "zweiten Lebens", als Reichspräsident der Weimarer Republik, an der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933. Auch dies zwei Ereignisse, bei denen Pyta zu "nüchternen", Unanfechtbarkeit erheischenden Urteilen neigt. Die Haltung des dezidierten Monarchisten Hindenburg gab den Ausschlag dafür, daß die Hohenzollern-Herrschaft am 10. November 1918 Geschichte war. Punktum. Und die Verantwortung für Hitler? Trifft Hindenburg, juristisch ausgedrückt, gleichfalls "vollumfänglich". Widerstände, die sich noch 1932 an der Weigerung ablesen lassen, Hitler mit der Regierungsbildung zu beauftragen, Exkulpationen, die alles auf Einflüsterungen "ostelbischer Junker" oder auf Hindenburgs Senilität schieben möchten, schließlich die mit der Wendung vom "böhmischen Gefreiten" untermauerte persönliche Antipathie des Reichspräsidenten - im Januar 1933, so befindet Pyta, war das alles irrelevant. Ein geistig frischer, durch hochalpine Gamsjagden körperlich ertüchtigter "alter Herr" traf autonom seine Wahl für einen Mann und eine Bewegung, der er zutraute, sein ureigenstes politisches Projekt, die "nationale Einheit" und die "Stiftung der Volksgemeinschaft" der Deutschen, zu vollenden.

Pyta rekonstruiert in kleinsten Schritten, wie Hindenburg sich in die Rolle des Politikers einlebt, für die er seit 1916 sein als Feldherr erworbenes "symbolisches Kapital" einzusetzen lernt. 1917/18 bildet die OHL mit ihm und Ludendorff an der Spitze das zwischen Kaiser, Reichsregierung und Reichstag zeitweilig stärkste Gravitationszentrum im komplizierten Verfassungsgefüge des Zweiten Reiches. Was Pyta von hier ab in immer neuen, in den letzten Kapiteln schier penetranten Wendungen nicht müde wird zu wiederholen: Hindenburgs politisches Credo, das alle Entscheidungen von der Auslösung des "uneingeschränkten U-Bootkrieges" am 1. Februar 1917 bis zur Salvierung des "Röhm-Putsches" 1934 strukturiere und verständlich werden lasse, sei identisch mit der politischen Philosophie Carl Schmitts. Wie der Kronjurist der Präsidialkabinette Papen und Schleicher verstehe Hindenburg das homogene Volk als Urgrund des Politischen. Nur seiner zu homogenem politischen Willen zusammengeschweißten Verfassung verdanke es überhaupt seine Politikfähigkeit. "Einheit" laute darum das Zauberwort. "Innere Einheit als zentrale Voraussetzung für politische Aktionsfähigkeit nach außen": zweifellos ein "militantes Politikverständnis", zweifellos auch "zwingend antipluralistisch und antiparlamentarisch".

Aber, und darüber verliert der sonst zu so epischer Breite neigende Pyta kein Wort, ein "Politikverständnis", das nicht im luftleeren Raum entstanden sein kann, das einen historischen Ort haben muß. Den sucht Pyta aber nicht auf. Der Bezugsrahmen politischen Handelns geht ihm daher weitgehend verloren. Aus solcher Perspektive erscheint Hindenburgs Bewirtschaftung seines "Symbolkapitels" folglich als Selbstzweck. Darum könnte man die von der OHL gegenüber der Reichsleitung eingeklagte "innere Einheit" für eine fixe Idee des "hölzernen Titanen" (Wheeler-Bennett) halten, und nicht etwa geboren aus der Notwendigkeit, knappe personelle und materielle Ressourcen des Reiches "total" zu mobilisieren: gegen einen erbarmungslosen Feind, der nie einen "Verständigungsfrieden" wollte und dem seinerseits die "demokratisch" organisierte "totale Mobilmachung" viel effizienter gelang als den ach so "autokratisch" regierten Deutschen. Hier liegt übrigens der reale Kern des von Pyta nur als perfide "Legende" erörterten "Dolchstoßes".

In schönster bundesrepublikanischer Zunfttradition suggeriert Pyta daher, die auf einen "Siegfrieden" versessene irreale Politik des "Dioskurenpaares" der OHL habe der "Verständigungspolitik" keine Chance gelassen. Dabei ignoriert er, daß auf Entente-Seite vier Jahre lang kein "Verständiger" die Hand bot. Im Bemühen, die Wirklichkeitsferne "vordemokratischer" Einheitsfixierung des "deutschen Nationalismus" in der Kontinuität "charismatischer Herrschaft" von Hindenburg zu Hitler aufzuzeigen, läßt denn auch Pyta die fehlende kritische Distanz zu seinem "Helden" und damit den volkspädagogischen roten Faden seines Mammutwerkes erkennen. Kein Wunder, daß der Rezensent Hans-Ulrich Wehler, dem Pyta für "Beratung" dankt, ihm wegen seiner "konsequent durchgehaltenen Kritik am Nationalismus als handlungsleitendem Weltbild" am lautesten zujubelt (Die Zeit, 46/07).

Als ein Nebenprodukt der Biographie entstand an Pytas Lehrstuhl die Dissertation Jesko von Hoegens über "Genese und Funktion des Hindenburg-Mythos". Hier wird die symboltheoretisch nicht ganz neue Ansicht exemplifiziert, gerade ein personeller Mythos sei ein "Sinngenerator", verhelfe dem politischen Verband zu Identität, gebe Orientierung qua Komplexitätsreduktion. Der "Held von Tannenberg" habe den hohen Bedarf an Selbstvergewisserung eines durch den Umbruch von der Agrar- zur Industriegesellschaft extrem fragmentierten Großkollektivs befriedigt, und diese Nachfrage nach einer Integrationsfigur sei ab 1918 sogar noch gestiegen. Am Schluß diente der Hindenburg-Mythos als "Schutzschild der nationalsozialistischen Gleichschaltungspraxis".

Der Autor zieht es vor, Entstehung und Wirkung des Mythos primär anhand von Presseartikeln zu belegen. Das grenzt wichtige andere Formen medialer Vermittlung wie die Jugend- oder Heimatliteratur zum Thema "Tannenberg" aus. Zu den peinlichsten Zugeständnissen an den Zeitgeist zählen von Hoegens Ausführungen über das "Russenbild" von 1914. Das habe sich aus "Übertreibungen und Gerüchten" genährt. Die "Greueltaten" sind bei ihm daher nur "angebliche". Angesichts von 1.600 ermordeten Zivilisten, 10.000 nach Sibirien Verschleppten und der zur Hälfte verwüsteten und gebrandschatzten ostpreußischen Provinz dokumentieren solche Einschätzungen nur den Opportunismus eines karrieriebewußten Jung­historikers.

Wolfram Pyta: Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler. Siedler Verlag, München 2007, gebunden, 1.120 Seiten, Abbildungen, 51,40 Euro

Jesko von Hoegen: Der Held von Tannenberg. Genese und Funktion des Hindenburg-Mythos. Böhlau Verlag, Köln/Weimar 2007, gebunden, 475 Seiten, Abbildungen, 54,90 Euro


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen