© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/08 04. Januar 2008

Schmerzhafte Wahrheit in Mittweida
Sachsen: Der angebliche Überfall von Rechtsextremisten auf eine 17jährige war offenbar vorgetäuscht / Nominierung für Ehrenpreis für Zivilcourage
Michael Paulwitz

Die Chronik der erfundenen Neonazi-Überfälle ist offenbar um einen weiteren Fall reicher: Mit der Mitteilung, eine 17jährige Gymnasiastin aus Mittweida, der angeblich vier Skinheads ein Hakenkreuz in die Hüfte geschnitten hatten, könne sich die Verletzung auch selbst beigebracht haben und man ermittle nunmehr auch wegen Vortäuschens einer Straftat, machten die Chemnitzer Polizei und Staatsanwaltschaft Ende Dezember zum zweiten Mal innerhalb von vier Wochen deutschlandweit Schlagzeilen.

Der Fall war von Anfang an dubios, auch wenn dies den Nachrichtenagenturen erst nach dem öffentlichen Selbstzweifel der Ermittlungsbehörden aufgefallen war. Bereits am 3. November hätten vier Neonazis ein sechsjähriges "Aussiedlermädchen" auf einem Parkplatz herumgestoßen; sie sei dem Kind zu Hilfe gekommen, worauf die Schläger sie mit einer Art Skalpell mißhandelt hätten. Bevor sie ihr auch "Runen" hätten ins Gesicht schneiden können, sei sie entkommen.

Mit dieser Geschichte ging die junge Frau allerdings erst neun Tage später zur Polizei, die sie wiederum elf Tage später trotz dünner Ermittlungsergebnisse publik machte: Zeugen hätten sich trotz zur Tatzeit angeblich vollbesetzter Balkone (nach Einbruch der Dunkelheit, wohlgemerkt) noch nicht gefunden, einen zunächst festgenommenen 19jährigen aus dem Umfeld der im Frühjahr verbotenen Mittweidaer Neonazi-Kameradschaft "Sturm 34", wegen des bevorstehenden Prozesses wieder in aller Munde, habe man mangels Tatverdacht wieder freilassen müssen.

Auch die bei aller Detailliertheit stereotyp überzeichneten Täterbeschreibungen und Phantombilder machten die Beamten nicht stutzig. Man habe ja das Wort der Rechtsmediziner, solche Verletzungen könne man sich nicht selbst beibringen, und man habe auch das Kind ermittelt, das die Version der Schülerin bestätige. Das Mädchen freilich war samt Familie zum Tatzeitpunkt verreist, und die fachmännische Bestätigung entpuppte sich als Ersteinschätzung einer Staatsschutzbeamtin; zwei unabhängige rechtsmedizinische Gutachten besagten das Gegenteil, wie Polizei und Staatsanwaltschaft jetzt zerknirscht einräumen und "Kommunikationsfehler" und "Suggestivfragen" bei der Vernehmung des Kindes geltend machen.

Trotz dramatischer Appelle und einer noch Ende November ausgelobten Belohnung von 5.000 Euro meldeten sich zudem bis heute keine Zeugen des Vorfalls - wohl nicht aus Feigheit, sondern weil es keine gab. Nun müsse man "in alle Richtungen" ermitteln, schon weil der "wohl falsche Eindruck" entstanden sei, in Mittweida gebe es nicht "genügend Zivilcourage".

Viele, die voreilig über Mittweida geurteilt hätten, müßten jetzt ihre Meinung revidieren, kommentierte CDU-Bürgermeister Matthias Damm die Ermittlungspleite. Da muß er freilich bei sich selbst beginnen. Damm persönlich war nach den ersten Meldungen über den Vorfall in Aktionismus verfallen, hatte von "Schande" gesprochen, sich bei der 17jährigen überschwenglich bedankt, schließlich mit einer Briefaktion mögliche Zeugen aufgefordert, sich zu melden, und beharrt noch immer darauf, man sei zwar "keine Nazi-Stadt", habe aber ein "Rechtsextremismus-Problem".

Nicht minder eifrig zeigten sich Sachsens CDU-Größen. Innenminister Albrecht Buttolo war "entsetzt und traurig", Justizminister Geert Mackenroth pries ebenso wie Leipzigs OB Burkhard Jung (SPD) und Polizeipräsident Bernd Merbitz die Gymnasiastin als Vorbild und forderte alle Bürger auf, rechtsextreme Vorfälle zu melden - es gebe in Deutschland "mehr als 80 Millionen Mitarbeiter für Polizei und Justiz". Merbitz reaktivierte die "mobilen Fahndungsgruppen", Mittweidas CDU-Landrat Andreas Schramm richtete zum 1. Dezember eine "Stabsstelle Rechtsextremismus" ein und schickte drei zusätzliche Sozialarbeiter in den Kampf "gegen Rechts".

Teilerfolg für Lobbygruppen

Damit konnten die einschlägigen Lobbygruppen immerhin einen Teilerfolg verbuchen, nachdem in Mittweida eine kleine Demonstration organisiert worden war und auch der "Gesicht zeigen"-Vorsitzende und Ex-Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye den Fall zu "Zivilcourage"-Aufrufen genutzt hatte.

Mit dem Sächsischen Verdienstorden, den die Antifaschismus-Sprecherin der Linksfraktion im Dresdener Landtag für die 17jährige Vier-Wochen-Heldin forderte, dürfte es allerdings eher schlecht aussehen. Immerhin steht noch die Nominierung für den Zivilcourage-Ehrenpreis des Bündnisses für Demokratie und Toleranz, den sie am 1. Februar erhalten sollte. Der Bündnis-Beirat, dem neben der Kommunistin Ulla Jelpke auch CDU-Abgeordnete und -Kabinettsmitglieder angehören, verlieh ihr postwendend und einstimmig den Preis und richtete auch gleich ein Spendenkonto ein. Nun wolle man erst mal die weiteren Ermittlungen abwarten, erklärte die sächsische Grünen-Bundestagsabgeordnete Monika Lazar.

Auffallend war im "Fall Mittweida" die relative Zurückhaltung der Medien. Die meisten begnügten sich mit der Wiedergabe der Agenturmeldungen; Spiegel online beeilte sich zu versichern, man habe sich ganz auf die Polizeiquellen verlassen, und überarbeitete nachträglich seine früheren Berichte. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wollte sich in ihren Online-Meldungen nur ungern von der Geschichte verabschieden und räsonierte dafür im Feuilleton über Zusammenhänge mit "Borderline"-Störungen und dem Bedürfnis nach schmerzhaften Initiationsriten.

Ein Blick ins Archiv hätte allerdings durchaus Anlaß für frühere kritische Nachfragen sein können. Schon 1994 hatte eine ebenfalls 17jährige Rollstuhlfahrerin aus Halle/Saale zugeben müssen, sich ein angeblich von "Neonazis" geritztes Hakenkreuz selbst beigebracht zu haben. Zuvor hatten ihretwegen 15.000 Menschen gegen "rechte Gewalt" demonstriert. Ebenso erfunden waren die Neonazis, die Ende 2002 in Guben einer 14jährigen Kubanerin das selbstgemachte Hakenkreuz in die Wange geschnitten haben sollten, und im November 2006 die Unbekannten, die einem betrunkenen und bewußtlosen Oberpfälzer nach einem Dorffest in Wissing angeblich dieses Symbol in den Bauch geritzt hatten. Eine junge Frau, der bei klarem Kopf im Januar 2003 in der Berliner S-Bahn selbiges widerfahren sein sollte, wurde nie gefunden.


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