© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/08 04. Januar 2008

Die deutschen und die Judenpolitik 1933-1945
Die Angst vor dem einen Prozent
Konrad Löw

Vor gut zehn Jahren erschien unter dem Titel "Hitlers willige Vollstrecker" der kühne Vorwurf des amerikanischen Politologen Daniel Goldhagen, die ganz große Mehrheit der Deutschen habe "willig" Hitlers Mordplan an den Juden exekutiert.

Das Echo war gespalten. Kinder und Enkel der "Vollstrecker" bereiteten ihm auf seiner Deutschlandtournee einen freundlichen Empfang, teilten und teilen offenbar sein Urteil.

Als wenige Jahre später Robert Gellately, Professor für die Geschichte des Holocaust am Center for Holocaust Studies der Clark University in Worcester/Massachusetts, nachlegte und "Hitler und sein Volk" veröffentlichte, war die Bundeszentrale für politische Bildung so begeistert, daß sie das Buch in ihren Verteiler aufnahm und auf den Umschlag schrieb: "Der Autor ... beweist stichhaltig, daß die Deutschen nicht nur von den Verbrechen der nationalsozialistischen Machthaber wußten, sondern darüber offen informiert wurden und weit aktiver, als bisher bekannt war, mithalfen - durch Zustimmung, Denunziation oder Mitarbeit." Also erneut: die Deutschen als "Hitlers willige Vollstrecker". Diese kollektive Schuldzuweisung soll offenbar von allen Deutschen akzeptiert und verinnerlicht werden.

Beweisen die beiden Veröffentlichungen, was sie zu beweisen vorgeben: nämlich, daß die große Mehrheit der Deutschen Hitlers brutale Judenpolitik gutgeheißen hat?

Im Frühjahr des soeben vergangenen Jahres erschien die kommentierte Gesamtausgabe der Tagebücher 1933 bis 1945 des Juden Victor Klemperer, rund 15.000 Seiten. Wer Klemperer liest und sein Leben betrachtet, wird stutzig und fragt sich, wer das deutsche Volk der NS-Ära zutreffender beurteilt - amerikanische Nachkriegskinder wie Goldhagen und Gellately, oder Leute wie Victor Klemperer, die, im deutschen Volk lebend, das NS-Regime vom ersten bis zum letzten Tag erlitten haben. Sein Urteil: "Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sünde." Daher lohnt es sich, alle historisch relevanten Quellen daraufhin zu befragen, ob sie die oben bereits zitierte amtliche Sicht Deutschlands untermauern oder das Urteil Klemperers stützen.

Da sind zunächst die damals lebenden "gewöhnlichen" Deutschen, die gleichsam auf der Anklagebank sitzen. Da sind die Täter im engeren, strafrechtlichen Sinne, die Täter vor Ort und am Schreibtisch. Da sind ihre amtlichen Informanten, die Meldungen erstatten mußten, und jene, die es als Denunzianten freiwillig taten. Da sind die Regimegegner, "das andere Deutschland", dessen Existenz kein Vernünftiger bestreitet. Da sind die damals im Land lebenden Ausländer, vor allem Diplomaten und Journalisten. Da sind schließlich, was die Glaubwürdigkeit anbelangt sogar vorrangig, die jüdischen Opfer, die in der Zeit der Verfolgung wie auch später ihre Beobachtungen zu Papier gebracht haben.

Es ist hier nicht der Raum, um die Fülle der Zeugnisse zu präsentieren - stattliche Bücher lassen sich damit füllen. Doch nicht jeder findet die Zeit, um sich in sie zu vertiefen. Darum soll hier ein Extrakt der einschlägigen Forschung geboten werden.

Wie aus den Forschungen zur geheimen NS­-Berichterstattung hervorgeht, glaubte das Regime nicht an das monolithische Bild von Staat und Gesellschaft, das von ihm selbst in den Massenmedien dargestellt und von der Welt entsprechend wahrgenommen wurde.

"Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit durch den Sündenbock Hitler ist nicht neu. Bereits in der ersten Nachkriegszeit hatten solche Manöver Hochkonjunktur", hieß es in der Ankündigung eines Vortrags der Friedensinitiative Konstanz vom Frühjahr 2006. Und in der Tat haben in der Kriegs- und Nachkriegszeit nur wenige Deutsche ihre Stimme erhoben und sich mitschuldig an der Shoa bekannt. Zu den sehr kritischen Zeitzeugen zählt Margarete Mitscherlich, Jahrgang 1917, die in einem Interview äußerte: "Ich bin nie in ein Milieu hineingeraten, in dem man Hitler und seine Gefolgschaft nicht unendlich primitiv fand."

Wenn wir ihr Glauben schenken, so stellen ihre Worte Teilen der deutschen Gesellschaft ein bemerkenswertes Zeugnis aus. Denn eine agile Frau wie sie, rund 20 Jahre alt, kommt mit vielen und vielerlei Menschen in Kontakt. Wenn sie nie in ein von Hitler begeistertes Milieu geriet, so läßt das verallgemeinernde Schlüsse zu. Natürlich gab es "braune" Milieus in großer Zahl. Doch wenn man wollte, konnte man sie zumindest im privaten Bereich umgehen.

Wenn von "braunen" Milieus die Rede ist, denkt mancher Leser sogleich an die Millionen Mitglieder der Partei Hitlers. Aber ein Pauschalurteil ist bedenklich, waren doch darunter sehr namhafte Judenhelfer, so Oskar Schindler und Wilm Hosenfeld. Von Ernst Leitz heißt es: "Leitz' Liste. Der Chef des Unternehmens Leica war Mitglied der NSDAP. Daß er damit mindestens 41 jüdischen Angestellten das Leben rettete, hat er nie erzählt." Martin Niemöller hat noch im März 1933 die NSDAP gewählt, und sowohl die Geschwister Scholl als auch Graf Schenk von Stauffenberg haben den Beginn der NS-Herrschaft begrüßt.

"Juden und Judenknechte" lautete die Überschrift einer Anweisung für Redner vom November 1938. Darin stand: "Der Reichspropagandaleiter gibt bekannt: Bei der Durchführung verschiedener einschneidender Maßnahmen in den vergangenen Tagen gegen das Judentum hat sich gezeigt, daß ein großer Teil des Bürgertums für die durchgeführten Maßnahmen geteiltes Verständnis aufbringt. Zum größten Teil laufen diese Spießer und Kritikaster herum und versuchen, Mitleid mit den 'armen Juden' zu erwecken mit der Begründung, daß Juden auch Menschen seien ... Die Masse der Bevölkerung ... hat ... nicht die Aufklärung erfahren, die für die Nationalsozialisten im Kampf ohne weiteres gegeben war. Dieses Versäumnis ist daher nachzuholen... Heil Hitler gez. Dr. Goebbels". Jahre später mußte Goebbels gegenüber Hitler das Scheitern seiner Bemühungen eingestehen.

Woher wußte die politische Führung, daß ihre Judenpolitik nicht die Zustimmung der breiten Massen fand? Den Massenmedien war es jedenfalls nicht zu entnehmen. Fundierte Antwort gibt vor allem das 894 Seiten starke Werk "Die Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933-1945", das 2004 herausgekommen ist. Da heißt es gleich zu Beginn der Einleitung: "Wie aus den bisherigen Forschungen zur geheimen NS-Berichterstattung hervorgeht, glaubte das Regime nicht an das monolithische Bild von Staat und Gesellschaft, das von ihm selbst in den Massenmedien dargestellt und von der Welt meist entsprechend wahrgenommen wurde." Die 752 abgedruckten Dokumente bestätigen eindrucksvoll die Richtigkeit dieser Feststellung.

Wer wissen will, wie die Hitler-Gegner das Verhältnis des deutschen Volkes zur politischen Führung beurteilt haben, greift mit größtem Gewinn zu den Deutschlandberichten der SPD. Sie füllen rund 10.000 Seiten in sieben Bänden, die Jahre 1934 bis 1940 betreffend.

Das Bild, das diese Berichte vermitteln, paßt zu den Erkenntnissen, die aus den Stimmungsberichten zu gewinnen sind: "Man kann ohne Übertreibung sagen, daß vier Fünftel der Bevölkerung die Judenhetze ablehnt. Zwar sind nach wie vor an fast allen Ortseingängen und -ausgängen Schilder angebracht mit der Aufschrift: 'Juden sind hier unerwünscht', auch gibt es nur ganz vereinzelt noch Mutige, die mit einem Juden freundschaftlichen Verkehr pflegen - diese sind dann als Judenknechte geächtet -, aber die ganz barbarischen Transparente ... sind wieder verschwunden."

Konrad Adenauer, der erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, war schon vor 1933 als führendes Mitglied der Zentrumspartei Hitler-Gegner und blieb es auch nach seiner Absetzung als Oberbürgermeister von Köln. Seine Aufgeschlossenheit für jüdische Belange ist weltweit bekannt und unbestritten. Sein offen eingestandener Philosemitismus bildete für die Nationalsozialisten einen Hauptangriffspunkt. In seiner Regierungserklärung vom 27. September 1951 führte Adenauer aus: "Das deutsche Volk hat in seiner überwiegenden Mehrheit die an den Juden begangenen Verbrechen verabscheut und hat sich an ihnen nicht beteiligt."

Am 9. November 1986 hielt Niels Hansen, ehemaliger Botschafter der Bundesrepublik in Israel, vor der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Stuttgart e. V. zum Gedenken an den Pogrom der "Reichskristallnacht" eine bemerkenswerte Rede, die viel Beifall fand. Schon die Überschrift des veröffentlichten Referats läßt aufhorchen: "Von 'Volkszorn' konnte damals keine Rede sein". Ihm ging es, wie er einleitend betonte, nicht zuletzt um "Einstellung und Haltung dieser Deutschen jener Zeit gegenüber der Hitlerschen Judenpolitik". Geboren 1924, teilte Hansen eigene Erfahrungen mit, vor allem aber gab er wieder, was ausländische Diplomaten wahrgenommen hatten. So berichtete zum Beispiel der britische Geschäftsträger aus Berlin am 16. November 1938: "Ich habe nicht einen einzigen Deutschen, gleich welcher Bevölkerungsschicht, angetroffen, der nicht in unterschiedlichem Maße zum mindesten mißbilligt, was geschehen ist."

Die Zahl der rassisch Verfolgten, die ihre damaligen Erfahrungen mit den "arischen" Deutschen zu Papier gebracht haben, ist erstaunlich groß: Sie beträgt über einhundert. Es handelt sich um Dokumente von schier unschätzbarem Wert, für die wir Dank schulden, da sie jedes andere Beweismittel an Glaubwürdigkeit und Authentizität übertreffen.

Alle diese Zeugen überragt an Bedeutung Victor Klemperer, der in diesem Zusammenhang wichtige Eigenschaften in ganz außergewöhnlicher Weise in sich vereinigt. Niemand sonst hat jene Zeit, den Alltag und die Menschen des Alltags minutiöser beschrieben als er.

Es sind Dokumente von unschätzbarem Wert, da sie jedes andere Beweismittel an Authentizität übertreffen. Alle diese Zeugen überragt Victor Klemperer, der in diesem Zusammenhang wichtige Eigenschaften in außergewöhnlicher Weise in sich vereinigt.

Aus Platzgründen können hier nur drei Pauschalurteile wiedergegeben werden, die er jeweils am Ende eines zumindest Wochen dauernden Arbeitseinsatzes mit jeweils einem ganz anderen Umfeld gefällt hat. Nie sind es Menschen seiner Wahl, sondern Menschen, die der Zufall zusammengewürfelt hatte. Aber die Erfahrungen stimmen überein.

"6. März (1942), Freitag: Gestern nach zwanzig Tagen Dienst (als Schneeschaufler in den Straßen Dresdens) ... Der Pg., vor dem wir gewarnt waren: ... Er wurde bald gegen uns alle freundlich zutunlich, plauderte, half, trieb niemanden ... Im Verhalten gegen uns lägen Härten, es werde überhaupt manches falsch gemacht - aber davon wisse der Führer nicht ... Aber ich glaube, auf einen solchen Gläubigen kommen doch wohl schon fünfzig Ungläubige. Genauso ist wohl das Verhältnis derer, die uns mit Vergnügen arbeiten sehen oder beschimpfen, zu den Sympathiekundgebern", also demnach eins zu fünfzig.

Ab Montag, 19. April 1943, mußte Klemperer bei einer Firma Schlüter arbeiten. Nach vier Monaten hielt er die Beobachtung fest: "Der allgemeine Umgangston freundschaftlich, fast kameradschaftlich - ganz unantisemitisch."

Am 1. November hatte Klemperer einen neuen Arbeitsplatz antreten müssen. Sein Resümee nach fünf Monaten war geradezu provokativ: "Einzeln genommen sind fraglos neunundneunzig Prozent der männlichen und weiblichen Belegschaft in mehr oder minder hohem Maße antinazistisch, judenfreundlich, kriegsfeindlich, tyranneimüde ..., aber die Angst vor dem einen Prozent Regierungstreuer, vor Gefängnis, Beil und Kugel binden sie."

Mit den Schlußfolgerungen Klemperers stimmen die Aussagen der anderen Zeugen, die hier aus Raumgründen nicht präsentiert werden können, im wesentlichen überein. Einer von ihnen soll noch zu Worte kommen, Jochen Klepper, selbst "Arier", aber mit einer Jüdin verheiratet, die zwei jüdische Kinder in die Ehe mitgebracht hat.

Eine Notiz vom 31. März 1933 verrät seine heroische Gesinnung: "Warum soll es mir besser gehen als den Juden?" Für seine Erfahrungen und die seiner "Frauen" ist die Eintragung typisch, die er am 11. November 1938, also kurz nach dem Pogrom, machte: "Auch das, was Hanni heute von dem Verhalten selbst der recht nationalsozialistischen Südender und Steglitzer ... zu sagen hat, bestätigt, daß man am deutschen Volke nach wie vor nicht zu verzweifeln braucht. Das Volk ist ein Trost, seine moralische Ohnmacht eine furchtbare Sorge." Als die Deportation einer Tochter bevorstand, beging die Familie Selbstmord.

Die Deutschen in ihrer Mehrheit waren also keineswegs "Hitlers willige Vollstrecker" seiner Judenpolitik. Eine derartige Übereinstimmung hatte Goebbels' Propagandaministerium im Einvernehmen mit Hitler die Welt glauben machen wollen. Jetzt unternehmen es Goldhagen, Gellately und andere zumindest leichtfertig, diesen Willen Hitlers noch umzusetzen.

In jüdischen Kreisen Israels wie der USA ist die Auffassung weit verbreitet, die in Deutschland lebenden Juden seien weniger honorig als die übrigen, hätten sie doch das Tabu verletzt, das "Land der Täter" zu meiden. Das Resultat dieser Untersuchung könnte dazu dienen, derlei Vorbehalte, unter denen deutsche Juden leiden, abzubauen.

 

Prof. Dr. Konrad Löw, geboren 1931, lehrte Politikwissenschaften. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über die "Opfersicht auf die Kollektivschuld" (JF 49/05).


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen