© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/08 11. Januar 2008

CD: Klassik
Späte Vögel
Jens Knorr

Regisseur Peter Stein, dem die szenische Uraufführung von Walter Braunfels' "Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna" angetragen worden war, hat mit der Begründung abgelehnt, es handle sich um ein "Scheißstück". Die Frage einmal beiseite, ob der Begriff als theaterwissenschaftlicher Terminus durchgehen soll, scheint Stein sein Theaterinstinkt über die Schwächen des Opernkomponisten Braunfels nicht getrogen zu haben. Das Opernwerk des aus der "Münchner Schule" des Komponisten und Lehrers Ludwig Thuille hervorgegangenen Braunfels steht exemplarisch dafür, daß musikalische Stärken und szenisch-dramaturgische Schwächen durchaus miteinander zu tun haben können. Sein in den Zwanzigern erfolgreiches und in den Neunzigern wiederaufgeführtes Lyrisch-phantastisches Spiel in zwei Akten "Die Vögel", auf ein eigenes Libretto nach Aristophanes komponiert und 1920 unter Bruno Walter in München uraufgeführt, verleitet zu lyrisch-phantastischem Musizieren, zu Theaterspiel verleitet es nicht.

Den 1882 in Frankfurt geborenen Braunfels bringt das überwältigende Erlebnis einer "Tristan"-Aufführung vom Studium der Nationalökonomie ab und zum Musikstudium hin. Er läßt sich zum Pianisten und Komponisten ausbilden und hat in beiden Professionen erste Erfolge. Aus dem Weltkrieg kehrt er verwundet zurück und konvertiert zum Katholizismus. Die Uraufführung der "Vögel" macht ihn populär. Braunfels wird Mitglied der Preußischen Akademie der Künste, Adenauer beruft ihn zum Gründungsdirektor der Musikhochschule Köln. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wird Braunfels seine Ämter enthoben, erhält Arbeits- und Auftrittsverbot und geht in die innere Emigration. Als er nach 1945, wiederum von Adenauer, in seine alten Rechte neu eingesetzt wird, ist die Zeit längst über ihn hinweggegangen, dem Unverständnis der Jungen für sein Komponieren entspricht sein Unverständnis für das ihre. 1954 stirbt er in Überlingen am Bodensee.

Die Aufnahme in die Reihe "Entartete Musik" (Decca 448 679-2) beendet also ein zweifaches Vergessen, das nur zu einem Teil den Nationalsozialisten anzulasten ist. Zwar holt sich der Epigone sein dramaturgisch-musikalisches Gerüst vom spätromantischen Sperrmüll zusammen, aber in dem Zwischenreich erweiterter Diatonik hört er Nischen aus, an denen andere achtlos vorbeikomponieren, und füllt sie mit hyperlyrischen Klangformeln. Ein ausuferndes Liebesduett zwischen Hoffegut, dem Dichter, und der Nachtigall, dem Vogel der Dichter, bildet die delikate Schlüsselszene der Handlung, die eine Überschreibung der alten Fabel des Aristophanes aus neuem katholischen Geist ist, in der Hoffegut und Nachtigall sich näher und näher kommen, ohne aber zu dem zu kommen, was der Titel der Oper nahelegt. Der ohnmächtig Niedersinkende muß sich mit dem Kuß der Nachtigall begnügen, der den Dichter in ihm wachruft.

Lothar Zagroseks Interpretation mit dem Deutschen Symphonie-Orchester, dem Rundfunkchor Berlin und einem ansprechenden Solistenensemble scheint ganz auf das Liebesduett zentriert. Auch wenn Endrik Wottrich den makellos und brillant gesungenen Nachtigall-Koloraturen der Hellen Kwon eine wenig flexible, in der Höhe enge Tenorstimme, die mit schönem Stimmkern, entgegensetzt, möchte man Liebesduett und Schlußmonolog in dieser Ersteinspielung von 1994 immer wieder hören - aber man möchte die Oper nicht unbedingt sehen.

Ob Braunfels' Musiktheater gesellschaftliche Relevanz zu entfalten vermag, wird spätestens am 27. April in der Deutschen Oper zu erfahren sein, wo der Katholik Christoph Schlingensief der "Heiligen Johanna" auf die Sprünge helfen will.  

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