© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/08 11. Januar 2008

Zwischen Okkupation und Selbstbehauptung
Der Pustet-Verlag beleuchtet in seiner politischen und historischen Osteuropa-Reihe die Ukraine im 20. Jahrhundert
Lubomir T. Winnik

Vor 17 Jahren tauchte auf der Karte Europas das neue Land Ukraine auf. Ist das Land aber in der Tat "neu"? Das im Verlag Friedrich Pustet in Regensburg erschienene Buch "Ukraine - von der Roten zur Orangenen Revolution" von der Münchner Osteuropahistorikerin Katrin Boeckh und ihrem Kollegen Ekkehard Völkl aus Regensburg gibt sich Mühe, diese Frage zu beantworten. Da erfahren viele Leser wohl zum ersten Mal, daß "der Zweite Weltkrieg in keiner anderen Region Europas derart verheerende Schäden hinterlassen hat wie in der Ukraine. (...) Zwischen 5,3 bis 5,5 Millionen Opfer beklagte das Land (...), auf jedes in Frankreich verwüstete Dorf kamen 250 in der Ukraine. In der Ukraine wurden über 700 Städte und 28.000 Ortschaften ganz oder teilweise zerstört, etwa zehn Millionen Einwohner waren nach dem Krieg obdachlos. (...) Die Ukrainer stellten etwa ein Drittel der Zwangsarbeiter (Ostarbeiter) im Reich." Nicht minder eindrucksvoll und detailliert beschreiben die Autoren die Zeit des "Holodomor" (1931/33), des von Moskau organisierten Hunger-Holocaust in der Ukraine.

Ende 1932 waren bereits 94 Prozent der insgesamt 4,3 Millionen Tonnen Getreide abgezogen, die 1932 in der Ukraine geerntet worden sind. Es gab kein Geflügel, keine Katzen und keine Hunde mehr, verzweifelte Ukrainer aßen sogar Menschenkadaver. Und die Welt schaute weg. Der renommierte französische Politiker Edouard Herriot, welcher im August/September 1933 die Ukraine besuchte, sprach zynisch von "bösartiger Erfindung" der Feinde des Friedens in der Sowjetunion. Schade, daß die geschätzte Zahl der Toten im Buch verschwiegen wird, die immerhin achtzig Prozent aller ethnischen Ukrainer ausmachten - sechs Millionen.

Der Leser bekommt ein fast dreidimensionales Bild vom Schlachtfeld Ukraine, auf dem die imperialen Gelüste der mächtigen Nachbarn seit dem Mongolenüberfall im 13. Jahrhundert bis hin zur Orangenen Revolution von 2004 ausgetragen wurden. Das Erbe dieser Geschichte ist bis heute sichtbar: Das Land leidet unter ethnischen Spannungen (über acht Millionen Russen lehnen das Ukrainentum ab), die konfessionellen Zwistigkeiten halten an, die Oligarchen - meist ehemalige Exponenten des Sowjetregimes - rissen das Volksvermögen an sich und stehen den zivilisierten Reformversuchen im Wege.

Das Buch erklärt sorgfältig die sowjetische Russifizierungspolitik in der Nachkriegszeit: "Der Rückgang der Zahl ukrainischer Schulen schritt voran." Diese Zahl sank in den siebziger Jahren "auf unter 50 Prozent. 1984 erschienen über 72 Prozent der in der Ukraine publizierten Bücher und Broschüren in russischer Sprache", obwohl der Bevölkerungsanteil dieser Ethnie im Land knapp ein Fünftel betrug. Wie wichtig für Moskau die Ukraine auch unter ökonomisch-militärischem Aspekt war, verdeutlichen folgende Zahlen: Dreißig Prozent der sowjetischen Rüstungsindustrie befand sich in der Ukraine. Noch 1990 waren 16 Prozent der industriellen sowie 22 Prozent der landwirtschaftlichen Erzeugnisse aus der Sowjetunion ukrainischer Herkunft.

Das Buch ist gut illustriert. Karten, Grafiken und Fotos liefern wichtige Einzelheiten über Regionen und Gebiete, und solide kundige Erläuterungen von politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Besonderheiten verleihen ihm die Patina eines profunden Werkes.

Und doch erinnern einige anfängliche Ungereimtheiten spontan an ein ukrainisches Sprichwort, wonach sich mit einem Löffel Schmiere ein ganzes Faß Honig verderben läßt. Da wird dem "jungen" Land sein Bezug auf die eigene Vorgeschichte, die Kiewer Rus, abgesprochen: "Das im Mittelalter zurückgehende ukrainische Staatskontinuum ist aber in den Bereich des nationalen Mythos zu verweisen", heißt es. Ähnlich wie ihre Vorgänger verifizieren die Buchautoren ihre Recherchen nicht mit den aktuellen Forschungsergebnissen der ukrainischen historischen Wissenschaft - die man ohne erkennbaren Grund völlig ignoriert -, sondern greifen erneut auf die russische Variante der "Drei-Brüder-Legende" zurück.

Laut dem ukrainischen Philologen Hryhorij Piwtorak, Mitglied der ukrainischen Nationalen Akademie der Wissenschaften und Vize-Abteilungsleiter zur Problematik der slawischen Sprachen am angesehenen Potebnia-Sprachinstitut in Kiew, ist "das Falsche und Unbeholfene dieser 'Lehre' offensichtlich", denn diese halte jeder elementaren Kritik kaum stand und stehe im Widerspruch zum gesunden Menschenverstand. "Das Bild der 'gemeinsamen Wiege' ist auch deshalb verfehlt, da kein normaler Mensch drei Kinder auf einmal in eine Wiege legt. Abgesehen davon, daß diese Kinder Drillinge sein sollten, proklamiert die offizielle Ideologie den russischen Bruder zum älteren, welcher sich aus unerklärtem Grund in derselben Wiege wiedergefunden hat. Ist er aber tatsächlich der ältere Bruder? Wenden wir uns doch an die historischen Fakten" ("Herkunft der Ukrainer, Russen, Weißrussen und ihrer Sprachen", Kiew 2001).

Und diese Fakten sind erdrückend. Nachdem die Ukraine im 17. Jahrhundert unter russische Herrschaft kam, hat der "ältere Bruder" nichts unterlassen, um die Existenz des "jüngeren ukrainischen Bruders" zu vernichten. Zuerst übernahm er 1721 dessen Namen "Rus" (abgeleitet von Ruthenia, dem lateinischen Namen für "Rus") und machte daraus "Rußland". Rußland vernichtete das ukrainische Kosakentum, errichtete Potemkinsche Dörfer, unterwarf gewaltsam die ukrainische orthodoxe Kirche dem Moskauer Patriarchat und stellte mit dem Emser Erlaß des Zaren Alexander II. von 1876 sogar den Gebrauch des Ukrainischen unter Strafe. Mit dem Sprachverbot sollte das Wort "Ukraine" für immer aus jeglicher Handhabung und Erinnerung getilgt werden. So gab es auf einmal keine Ukraine mehr, sondern nur "Klein-Rußland", die Ukrainer wurden zu "Klein-Russen" umbenannt und alle Eigenarten ihrer Identität systematisch getilgt. Darüber verraten Boeckh und Völkl leider wenig oder gar nichts. Ganz im alten Stil behaupten sie: "Die ethnische Differenzierung der Ostslawen, aus denen die Völker der Ukrainer, Russen und Weißrussen hervorgingen, hat zwar in der Rus begonnen, ist aber erst im 17. Jahrhundert zum Abschluß gekommen."

Für ukrainische Forscher ist es jedoch von sekundärer Bedeutung, welche Ethnien den bestimmten Raum vorübergehend besiedelten, dafür um so  wichtiger, wer dort in historischer Kontinuität ansässig war. Diese Ethnie habe das natürliche Anrecht, das Land der Ahnen als eigene Vorwelt zu betrachten. Unbestritten bleibt: Kiew wurde eben nicht an der Wolga, Weichsel oder an der Moskwa gegründet, vielmehr am Dnipro/Dniepr in der Zentralukraine. Aus verschiedenen slawischen Stämmen hatte sich dort eine südslawische, Ackerbau betreibende und somit seßhafte Bevölkerung angesiedelt, die sich später zur ukrainischen Ethnie formierte.

Die Anhänger der russischen Deutung übersehen, daß seit Beginn des Mittelalters im Raum zwischen Oder und Don, zwischen Ostsee und Schwarzem Meer Hunderte slawische Stämme lebten, die völlig unterschiedliche Kulturen und anthropologische Typen entwickelt haben. Infolge der Vermischungen zwischen Trypilianer und indo-europäischem Steppenstamm der Arier entstand der sogenannte ukrainische (oder dinarische) anthropologische Typus, zu welchem auch Slowaken, Serben, Kroaten, Slowenen, Montenegriner gehören. Hingegen bildeten die Slawen der Nordgruppe - Polen, Russen, Weißrussen - den sogenannten Weichseler anthropologischen Typus, der unter skandinavischem Einfluß stand und sich von den Südslawen nicht nur durch mannigfache Dialekte und Lebensweisen, sondern auch durch körperliche Charakteristika unterschieden hat - vorwiegend blaue Augen, mittlerer Wuchs, breites Gesicht.

Es hat niemals homogene Slawen mit einer Einheitssprache gegeben, geschweige denn eine slawische Nation, also auch nicht im 10. und 12. Jahrhundert zur Zeit der Kiewer Rus. Der Stadtstaat Kiew und das daraus erwachsen Imperialgebilde Rus erweiterten ihre Herrschaftssphäre durch Expansion und Eingliederungen über weit zerstreute Slawenstämme, aber auch Nichtslawen wie die Litauer in alle Richtungen. Wenn die nördlich der Ukraine seßhaften slawischen Ethnien, die einst zu Kolonien der Rus/Ruthenien wurden, sich abgesondert und neue Namen wie etwa Moskoviten/Russen zugelegt haben, bedeutet dies lediglich, daß sie früher fremde Untertanen der Rus, ergo keine abgestammten Ruthenen und somit keine Erben Kiews waren.

Kathrin Boeckh, Ekkehard Völkl: Ukraine. Von der Roten zur Orangenen Revolution. Friedrich Pustet Verlag, Regensburg 2007, broschiert, 296 Seiten, Abbildungen, 26,90 Euro

Foto: Statue unter dem Bogen des Monuments der ukrainischen und russischen Völkerfreundschaft in Kiew: Identität getilgt

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