© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/08 18. Januar 2008

Das Märchen vom ewigen Leben
Schlimmstenfalls wird es ein Jubiläumsklassentreffen: Die Urgesteine des Rock müssen heute komplexe Gefühlslagen bedienen
Silke Lührmann

Einhundertfünfzig Cent pro Minute, neunzig Euro die Stunde - das ist kein exorbitanter Telefontarif und auch nicht die Honorarforderung eines Scheidungsanwalts. Soviel (auf dem zweiten, "schwarzen" Kartenmarkt noch weit mehr) war den 18.000 Besuchern des Ahmet-Ertegün-Tributs in der Londoner O2-Arena kürzlich ein Blitzbesuch in ihrer Jugend oder auch der des Vaters wert - damals jedenfalls, als Konzerthallen noch nicht nach Mobilfunkunternehmen benannt waren.

Das Feuilleton rankt seit langem vielerlei Legenden um die Konzerte von Dinosauriern wie Led Zeppelin, die hier nach 27 Jahren erstmals wieder unter diesem Namen auftraten - das Märchen vom ewigen Leben; das Gleichnis vom Sündenfall der Rockmusik, die ihre Unschuld nicht an den Teufel verpfändet, sondern viel schlimmer: auf dem Altar des Profits geopfert hat; die Bruderfehden zwischen Sängern und Gitarristen; die Söhne, die das Erbe ihrer an der Bürgerschreck-Front gefallenen Väter antreten.

Mag sein, daß die Wirklichkeit banaler und dabei furchtbarer ist: daß es gar kein ewiges Leben gibt und die Rockmusik nie eine Seele feilzubieten hatte. Allein, wer Chuck Berry unter der Obhut seines geschäftstüchtigen Sohnes über die Bühne des Berliner Tempodrom stolpern sah; wer sich partout mit eigenen Augen überzeugen mußte, daß Pete Townshend und Roger Daltrey nun doch alt geworden sind, bevor sie sterben; wer seit Jahrzehnten kein Dylan-Konzert verpaßt (es könnte ja das letzte sein ...); wer den Göttergatten über zahllose "30 Jahre später"-Travestien seiner heißgeliebten Punkbands hinweggetröstet hat - dem fehlt der Glaube.

Ein Segen geradezu, daß die Preisgestaltung der Veranstalter den Konzertbesuch zur grandiosen Geste ganz im Geiste jener sagenumwobenen Generation macht, die nur von Luft und Liebe, sex, drugs and rock'n'roll lebte. Vor einigen Jahren sagte ein führender Vertreter der Branche im Presseinterview, wenn Otto Normalverbraucher bereit sei, für ein Rolling-Stones-Ticket auf die neue Waschmaschine zu verzichten, habe die Unterhaltungsindustrie auch die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, ihm das Geld aus der Tasche zu ziehen. Das klingt nach allerzynischster Abzocke und verspricht doch Emanzipation: Nieder mit dem Konsumterror! Der "Geiz ist geil"-Versuchung der Elektronikmärkte den Stinkefinger gezeigt! Wer braucht schon eine Waschmaschine?

Wenn dereinst die Reunion-Tourneen von Arcade Fire und den White Stripes anstehen, wird womöglich auch das restliche Haushaltsinventar dran glauben müssen. Künftig nämlich sollen nach dem Willen der Anbieter mehr und mehr Karten meistbietend versteigert statt zum Festpreis gehandelt werden. "So braucht man keine Beziehungen zum Veranstalter, zu Theaterkassen oder zu Betreibern von Hallen, um an Karten zu kommen, und die Mehrerlöse kommen dem Künstler zugute", schwärmt Peter Schwenkow, dessen Deutsche Entertainment AG durch die Übernahme der virtuellen Konzertkasse Kartenhaus nun auch noch im Vorverkaufsgeschäft mitmischt, gegenüber dem Online-Fachmagazin Internet World Business. Die Nachfrage soll's richten, der Schwarzmarkt, der freilich hierzulande noch unter dem geschätzten Umsatz von US-weit 1,4 Milliarden Dollar liege, eingedämmt werden.

Der Millionär Schwenkow, der nach eigenem Bekunden "selten bis nie Karten kaufen" muß, hat gut reden. So sehr man den darbenden Mick Jaggers dieser Welt ihre sauer verdienten Kröten gönnt: ein Schelm, wer sich Marktwirtschaft nicht als soziale Gerechtigkeit andrehen läßt. Über die Vergabe der Ahmet-Ert... (seien wir doch ehrlich: der Led-Zep-Karten) entschied immerhin nicht der Kontostand, sondern das Los, ein urdemokratisches Verfahren aus dem antiken Athen. Neben Schwenkows VIP-Kollegen hatten selbst sehr unwichtige Personen eine faire Chance, sich zu vergewissern, daß ihre Idole auch nicht mehr das sind, was sie mal waren. Nur ebenjene 180 Euro für das gut zweistündige Comeback mußten sie aufbringen, und sei es durch Verzicht auf die Waschmaschine.

Überhaupt: das Publikum? Je nach Preisklasse - denn tatsächlich sind abendfüllende Auftritte von Urgesteinen wie den Pretty Things, die es trotz aller Skandale nie zu echten Megastars brachten, noch für unter 25 Euro zu erleben -, je nach Preisklasse also setzt es sich (nebst einem Einsprengsel neugierigen Jungvolks in Indie-Kluft) aus echten Musikliebhabern und solchen zusammen, die es mal gewesen sein wollen; aus jenen, die ihre wildbewegten Zeiten mit einem bravourösen Bekenntnis zur Leistungsgesellschaft abschlossen, und den heute noch Wildbewegten. Vom letzten Vollrausch erzählen sie alle gerne, wenn sich die Gelegenheit bietet - bei den einen liegt er halt viele Jahre, bei den anderen zwei Tage zurück.

Im besten Fall haben die gestandenen Herrschaften auf der Bühne den nötigen Humor und die Reife, all diese komplexen Gefühlslagen - geschweige denn die eigene - zu bedienen. Schlimmstenfalls wird eine Art Jubiläumsklassentreffen draus mit einer Ehemaligen-Kapelle, die goldene Oldies abspielt.

Die hier feiern, erst recht die sich feiern lassen, sind schließlich die Überlebenden, die die Dreißig längst überschritten und damit ihre einstigen Ideale verraten haben. Tickets für Jimi Hendrix, für Janis Joplin oder die Doors? Da helfen die besten Beziehungen und der fetteste Geldbeutel nicht.

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