© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/08 25. Januar 2008

Neue JF-Debatte
Sind wir noch bei uns zu Hause?
Dieter Stein

Auf besondere Weise wurde der Feuilleton-Chef der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit, Jens Jessen, mit den Realitäten konfrontiert. Es ist neueste Mode, daß Redakteure sich in sogenannten "Videoblogs", also Kurzfilmen im Internet äußern. Der Ex-Kulturchef des Spiegel, Matthias Matussek, machte den Anfang mit seinen Videoblogs, die er in Hosenträgern, albern verschnitten wie in einem MTV-Videoclip aufnahm. Jessen sprach vor über einer Woche einen Beitrag für sein Zeit-Videoblog, bei dem er auf seinem Schreibtischstuhl lässig hin- und herschaukelnd einen aggressiv-polemischen Kommentar zur Debatte um Jugendkriminalität von Migranten in die Kamera sprach. Dieser Kommentar hat eine aufsehenerregende Welle von Protesten im Internet ausgelöst. Hunderte von empörten Zusehern protestierten bei der Zeit gegen Jessens Auftritt.

Grund: Jessen hatte in seinem Beitrag (siehe auch Seite 11) gefragt, "ob es nicht auch viel zu viele besserwisserische deutsche Rentner gibt, die den Ausländern hier das Leben zur Hölle machen und vielen anderen Deutschen auch". Die mörderische Gewalttat von ausländischen Schlägern, die in einem Münchner U-Bahnhof einen deutschen Rentner, der sie wegen eines Rauchverbots ermahnt hatte, fast totgeschlagen hatten, wurde zum Symbol eines sich ausbreitenden Gefühls des "Vorbürgerkrieges", eines Klimas galoppierender Desintegration. Für Jesse ist die Ermahnung des Rentners nur das letzte Glied in einer "Kette einer unendlichen Masse von Gängelungen, blöden Ermahnungen und Anquatschungen ..., die der Ausländer, und namentlich der jugendliche, hier ständig zu erleiden hat".

Aber ist dem noch so, daß man in Deutschland als Jugendlicher gegängelt und ermahnt wird, wenn man sich in der Öffentlichkeit danebenbenimmt, in einem Park uriniert, Zugabteile beschmiert, herumpöbelt, sich nicht an in diesem Land in Jahrhunderten gewachsene Regeln hält, die der Ordnung dienen und das Zusammenleben ermöglichen, damit es nicht in Mord und Totschlag mündet?

Es wäre doch traumhaft, wenn es sie noch in großer Zahl gäbe, die mutig "gängelnden" deutschen Rentner! Es ist schon lange her, daß ich erlebt habe, wie Erwachsene flegelhafte Jugendliche souverän und selbstbewußt gemaßregelt haben. In Wahrheit greift das Klima eines allgemeinen Wegduckens, Wegsehens und Erduldens von Frechheiten und Regelverstößen in der Öffentlichkeit beängstigend um sich. Problematisiert wird es lediglich im Zusammenhang mit einem sich angeblich ausweitenden Rechtsextremismus.

Mit Macht stellt sich jetzt die Frage nach der Zukunft von Identität und Integration in einer Gesellschaft, die durch das Experiment eines ideologisch beförderten Multikulturalismus in eine Zerreißprobe geführt wird. Sind wir bei uns noch zu Hause? Erleben wir bereits die Anfänge eines Rückzugs der Deutschen in Homelands, ziehen wir uns in einer Form des Vermeidungsverhaltens vor der zerfallenden öffentlichen Ordnung zurück? Diesen Fragen stellt sich eine neue JF-Debatte "Identität & Integration", die in dieser Ausgabe mit einem Beitrag von Götz Kubitschek auf Seite 12 beginnt.

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