© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/08 01. Februar 2008

Freie Fahrt nur für Kriminelle
EU: An der Schengen-Grenze zwischen Polen und der Ukraine ist das Chaos ausgebrochen
Lubomir T. Winnik

Tausende harren unter freiem Himmel in den endlos erscheinenden Schlangen geduldig aus. Hin und wieder kommt es zu heftigen Wortgefechten mit den Ordnungshütern. Die Nerven liegen blank, denn seit 21. Dezember ähnelt das polnische Generalkonsulat an der schmalen Iwan-Franko-Straße in Lemberg (Lwiw) einer belagerten Festung. Alle wollen nur ein Visum für Polen ergattern. Die Verbitterung über den neuen Diktator - die EU - wächst.

Verständlicherweise, denn seit das Sowjetreich zusammengebrochen war, herrschte in dieser zu k.u.k.-Zeiten zusammengehörenden Region Europas wieder ein Stück Bewegungsfreiheit. Für Kriminelle und illegale Einwanderer aus den unendlichen Weiten Asiens, die durch das Schengen-Grenzregime abgeschreckt werden sollen, hat sich lediglich der Weg in die EU auf andere Schleichrouten verlagert - mit "Bakschisch" oder dem Zauberwort "Asyl" ist weiterhin alles möglich. Betroffen sind wieder mal nur die "Normalbürger". Daß ausgerechnet jener Westen, der unermüdlich von Freiheit und vereintem Europa spricht, hier nach Sowjetmanier einen neuen "Eisernen Vorhang" errichten würde, konnte sich 1991 in der Ukraine niemand vorstellen.

"Bis 21. Dezember erteilte das polnische Generalkonsulat täglich bis zu 2.000 Visa an ukrainische Staatsbürger, die nach Polen wollten", erklärt der polnische Konsul Witold Osuchowski. "Jährlich also um die 300.000 Einreisebewilligungen. Wir dachten, mit unserem Beitritt zum Schengener Gebiet würde sich diese Zahl verringern. Aber wir haben uns offensichtlich geirrt." Die Ukrainer sind nicht nur über die Visa-Kosten von mindestens 35 Euro empört, was etwa einem Drittel der Monatsrente entspricht. Zehntausende Polen und Ukrainer aus den grenznahen Gebieten Lemberg und Wolynien bestritten seit 17 Jahren ihren Lebensunterhalt durch den kleinen Grenzhandel. So konnte eine ukrainische "Muraschka" (Ameise) täglich bis zu sechs Euro verdienen.

Die Lemberger Stadtverwaltung möchte den Polen nun größere Räumlichkeiten zur Verfügung stellen, um die bisher sieben Schalter auf bis zu 18 aufzustocken. Doch die Polen zögern. Die Zahl der täglich erteilten Visa sank auf 400 bis 800, sie berufen sich auf Schengen-Vorschriften und die ungeklärte Frage des kleinen Grenzverkehrs. Solche Verträge existieren zwischen der Ukraine, der Slowakei und Ungarn. "Seit Jahren wußten doch alle von der bevorstehenden Erweiterung des Schengen-Raums bis an unsere Staatsgrenzen, und niemand hat etwas unternommen, darauf entsprechend vorbereitet zu sein", beklagt der Historiker Oleh Klymenko aus der einst habsburgischen Tarnopol (Ternopil). Die Polen befürchten, daß die ukrainischen Bürger mit dem beschränkten Schengen-Visum weiterreisen könnten - theoretisch bis nach Portugal.

Wegen verschärfter Kontrollbestimmungen bilden sich an den Schengen-Grenzen im Osten immer längere Schlangen der auf die Zollabfertigung wartenden Lkw. Schon in den ersten Januartagen kam es zu Protestblockaden auf beiden Seiten. Nachdem der polnische Premier Donald Tusk versprochen hatte, die Zollformalitäten zu beschleunigen, begannen die Lkw-Fahrer am 20. Januar, die bis zu 30 Kilometer langen Kolonnen aufzulösen - allerdings unter Androhung, diese schon am 2. Februar wieder aufzunehmen, falls die Versprechen nicht eingehalten würden.

Doch nun protestieren die polnischen Zöllner - trotz Streikverbots erschienen sie einfach nicht am Arbeitsplatz. Ihre Forderung: kürzere Arbeitszeiten, frühere Pensionierung und Lohnerhöhung bis zu 1.500 Złoty (417 Euro) statt 500 Złoty, wie Tusk angeboten hatte. Die Fronten sind aber verhärtet: "Wir können den Zöllnerforderungen nicht nachgeben. Wir haben dazu ganz einfach kein Geld", verkündete Tusk.

Inzwischen werden die Staus immer länger. Allein am Grenzübergang Korczowa/Krakowitz (Krakoweć) waren es am Wochenende schon über 15 Kilometer - nur ein Zollbeamter war anwesend. Am Grenzübergang Dorohusk betrug die Lastwagenkolonne sogar 30 Kilometer. Statt 30 Zöllnern fertigten nur fünf den Schwerverkehr ab. In Medyka standen über 1.000 Lkw herum. Den Fahrern ist das Essen ausgegangen, viele haben keinen Diesel mehr, Tausende frieren. Es gibt so gut wie keine Sanitäranlagen an den Straßen, kein Trinkwasser und keine Wärmemöglichkeit. Zwei ukrainische Lastwagenfahrer sind bereits gestorben: einer an Herzinfarkt und ein anderer im Schlaf, nachdem seine Heizung in Brand geraten war. Für die nächsten Tage planen die Fahrer einen Sternmarsch nach Warschau. Sie wollen die Straßen der Hauptstadt blockieren.

Foto: Polnisches Konsulat in Lemberg: "Keine neue Berliner Mauer!"

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