© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/08 01. Februar 2008

CD: Klassik
Lokalkolorit
Jens Knorr

Herr Matěj Brouček, Hausbesitzer auf der Prager Kleinseite, der in Würfls Kneipe "Vikárka" auf dem Hradschin wohl einige Biere genossen hat, wünscht sich ob seiner unerträglichen Mitmenschen an einen besseren Ort - auf den Mond. Ein andermal, wieder nach einigen Bieren, gerät Herr Brouček in die Schatzkammer König Wenzels IV. und von dort unversehens in eine bessere Zeit hinein - in das 15. Jahrhundert, genauer, in die Morgendämmerung des 14. Juli 1420.

Herr Brouček gehört weder zu dem Personal eines der utopischen Romane Jules Vernes noch der Offenbachschen Opéra féerie  "Die Reise auf dem Mond", er ist, wenn auch nicht Titelheld, so doch immerhin Titelfigur zweier Satiren des tschechischen Literaten und Nationalisten Svatopluk Čech, nach denen Leoš Janáček sein von den Opernhäusern sträflich vernachlässigtes bodenlos doppelbödiges Meisterwerk "Die Ausflüge des Herrn Brouček" schuf. Die Vernachlässigung liegt zum einen in der unübersichtlichen Werk- und Editionsgeschichte begründet. Janáček hatte die Arbeit an der Oper 1908 aufgenommen, die endgültige Fassung jedoch nach vielerlei Umarbeitungen erst zehn Jahre später abgeschlossen. Zum anderen ist dieses einzigartige Stück, eine kunstvolle Montage von Prager Lokalposse, Wiener Zauberposse, rauschgeborener Offenbachiade und historischem Musikdrama, für nichttschechische Hörer nicht ganz einfach zu verstehen.

Was hat es mit der Welt auf dem Monde und den Mondkünstlern mit ihrer Mondkunst auf sich, die Broučeks und Čechs und Janáčeks irdischen Bekannten nur allzusehr, aber eben auch wieder gar nicht ähnlich sehen. Was mit den Hussiten unter Jan Žižka, die sich just an diesem 14. Juli zur Verteidigung der Stadt gegen die Kreuzritter bereiten, einen Hussitenchoral auf den Lippen, dem schon Smetana in seiner Tondichtung eine tragende Rolle zugewiesen hat. Was mit der Erscheinung des Dichters Svatopluk Čech in der Schatzkammer König Wenzels, der den moralischen Verfall der Nation beklagt, und was mit der Widmung des Panslawisten Janáček: "Dem Befreier des tschechischen Volkes, Dr. T. G. Masaryk"? Sie habe zuviel "Lokalkolorit", begründete man 1917 im Drei-Masken-Verlag seine Ablehnung der da noch einteiligen Fassung. Sie hätten die Oper einem heutigen Publikum erst verständlich zu machen, begründen Bearbeiter und Übersetzer ihre Neufassungen und szenischen Einrichtungen und übersehen das Allgemeingültige, das in allem Lokalkolorit steckt. Kaum einen unverständlichen Rest läßt eine halbszenische Aufführung vom Februar 2007 im Londoner Barbican Centre, Weltpremiere der Neuedition von Jiří Zahrádka und Charles Mackerras, mit der Symphonieorchester und Chor der BBC unter Jiří Bělohlávek der Oper zu spätem Durchbruch verholfen haben könnten. Süchtig saugt der Sprachunkundige die fremde Sprachmelodie ein und versteht noch jedes Wort; wenn er den Blick von der Übersetzung im Beiheft nimmt und nach innen richtet, auf das Musiktheater, das Bělohlávek und das tschechische Solistenensemble im Kopf entstehen lassen. (Deutsche Grammophon 477 7387)

Nein, zum tschechischen Nationalisten reicht es bei dem Prager Biertrinker denn doch nicht hin. Herr Brouček desertiert von den Hussiten und wird als Kollaborateur der Deutschen in ein Faß gesteckt, das auf dem Scheiterhaufen brennen soll, aber, oh Wunder, von Würfl aufgemacht wird - im Keller der "Vikárka". Was Brouček dem Freunde dann berichtet, ist nur die halbe Wahrheit, die der ihm ebensowenig glaubt, wie er ihm die ganze geglaubt hätte. Würfl solle ja niemandem erzählen, wie er, Brouček, heldenhaft geholfen habe, Prag von den Deutschen zu befreien. Also wollen auch wir davon schweigen.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen