© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/08 08. Februar 2008

Die aufgewühlte Epoche
Rätsel der Welt: Eine Ausstellung in Karlsruhe widmet sich Mathias Grünewald und seiner Zeit
Hans-Georg Meier Stein

Albrecht Dürer stand stets im hellen Glanze seines Ruhms, sein Werk war Allgemeingut der Nation. Mathias Grünewald war bis vor etwas mehr als hundert Jahren selbst in der Kunstgeschichtsschreibung vergessen.

Grünewalds Herkunft und Biographie ist unserem Blick weitgehend entzogen. Eine Darstellung seines Lebens ist auf kümmerliche Spuren angewiesen, und nur fünf Buchstaben einer verstümmelten Signatur sind von seiner eigenen Hand. Selbst der Name, der ihn nunmehr weltberühmt gemacht hat und der heute mit seinem Œuvre verbunden ist, ist ein späterer Zusatz des Malers, Kupferstechers und Künstlerbiographen Joachim von Sandrart (1606-1688). Wirklich hieß er Mathis Gothard Nithart.

Um 1480 ist er im Würzburger Raum geboren. Wir wissen nichts von seiner Ausbildung und von der üblichen Wanderschaft zur Gesellenzeit. Um 1505 hatte er eine Werkstatt in Aschaffenburg. 1510 ist er in Mainz mit brunnentechnischen Aufgaben betraut. 1513 schafft er für das Antoniter-Kloster in Isenheim bei Kolmar sein Hauptwerk. Vier Jahre später wird er als Wasserbaukünstler in Aschaffenburg erwähnt. Danach war er in Halle mit Seifenherstellung beschäftigt. 1528 ist er dort gestorben. Für die letzten zehn Jahre seines Lebens gibt es keinerlei Hinweise.

Als 1598 Kaiser Rudolf II. nach dem Namen des Künstlers forschen ließ, der den Isenheimer Altar geschaffen hatte, war alle Mühe vergeblich - Grünewald verschwand nach seinem Ableben im anonymen Dunkel der Geschichte. Rätselhaft ist uns bis heute seine Lebensgeschichte geblieben.

Die außergewöhnlich einsame Stellung Grünewalds in seiner Zeit wird nicht nur in den spärlichen Fakten seiner Biographie und seiner Werkstatt deutlich, sondern auch in seiner Kunst, die scheinbar voraussetzungslos und autonom entstanden ist und mit der uns Werke von extremster Eigenart hinterlassen sind, die aber auch ohne Breitenwirkung und Schülerschaft blieb wie die Kunst Dürers, Altdorfers oder Cranachs. Und so fiel er bald in Vergessenheit.

Mit den christlichen Glaubensinhalten, die er in seiner Malerei vergegenwärtigt, erscheint er uns noch ganz als mittelalterlicher Künstler, der im Dienst der Kirche oder gläubiger Stifter arbeitete. Aber seine mächtigen, ausdrucksvoll bewegten Gestalten, die im Spätwerk immer plastischer werden, und seine kraftvollen Form- und Farbakzente weisen über die mittelalterliche Kunst hinaus in die Renaissance. Vor allem aber spricht ein leidenschaftliches Temperament aus seinem Werk, das das ganze Reich menschlicher Emotionen und subtilster seelischer Regungen umfaßt. Da sind höchste Intensität und stärkste Expression des Leides und des Schmerzes.

In seinem bedeutendsten und größten Werk, dem Isenheimer Altar, heute im Unterlinden Museum in Kolmar, hat Meister Mathis diese Gefühlsverdichtung in einer schauerlichen Kreuzigungsszene erschreckend gestaltet. Wer sich ein wirkliches Erlebnis von Grünewalds Kunstwerken verschaffen will, sollte ihn sich unbedingt ansehen. Aber die Kunsthalle Karlsruhe hat den umfangreichsten Fundus an Werken dieses Meisters und ist insofern besonders prädestiniert, ihn mit einer Ausstellung zu ehren.

Im Zentrum der großen Landesausstellung Baden-Württemberg steht die berühmte Kreuzigung aus der Pfarrkirche Tauberbischofsheim. Das dramatische Geschehen ist weit nach vorn und damit dem Betrachter sehr nahe gerückt, so daß er mit der Grausamkeit der Ereignisse unmittelbar konfrontiert und gleichsam in den Schauder der Umstehenden miteinbezogen wird.

Der grausig zerschundene, riesige Leichnam eines derb-bäuerlichen Typus hängt schwer am Kreuz wie ein erlegtes Tier. Das vom Tod gezeichnete Haupt ist nach vorn gefallen. Der mit blutigen Striemen überzogene Körper, die mit großer Roheit eingeschlagenen dicken Eisennägel, die höllische Dornenkrone, einem Schlangengezücht ähnlich - all das weist hin auf die mit radikalem Realismus gemalte Darstellung eines Gepeinigten, den die Härte des Schicksals mit voller Gewalt getroffen hat. Auch das zerfetzte Leintuch kündet von den Qualen, die das sadistische Ingenium einer ausgewiegelten und enthemmten Meute sich einfallen ließ. Das Leben ist hier nicht mehr Wunder der Schöpfung, sondern ein schockierendes Drama, und nichts liegt ferner als der Gedanke an den triumphierenden Willen des Weltschöpfers.

Nur Maria, in tiefer Trauer und Verzweiflung, und Johannes, in höchster Erregung, umstehen das Kreuz. Mensch und Gottheit scheinen vereint im Leiden, im beiderseitigen tiefgründigen Gefühlserlebnis. Darin drückt sich nicht nur das mystische Verlangen aus, die volle Vereinigung mit Christus zu finden, vielmehr mutet uns die Persönlichkeitscharakteristik wie moderner Individualismus an. Die faltenreichen Gewänder und die kraftvollen Farbakzente unterstreichen Erschütterung und Schmerz der hilflos und angstvoll Danebenstehenden. Die öde, leere Landschaft ist in ein dämonisches Dunkel gehüllt und die erste Seelenlandschaft der Malerei. Die unermeßlich düstere Tiefe steht auch für die Rätsel der Welt.

Die Kunstgeschichtsschreibung hat Grünewald oft als Antipoden Dürers bezeichnet und mit Hieronymus Bosch verglichen. Und richtig ist, daß Dürers humanistische Gedankenwelt, die Anregungen von der italienischen Renaissance empfing, seine Vorstellungen vom Menschen prägte und sich in seiner Porträtmalerei niederschlug. Auch arbeitete Dürer auf Gebieten, die Grünewald verschlossen blieben, wie etwa der Druckgraphik und der selbständigen Landschaftsmalerei.

Der Vergleich mit Bosch bleibt eher umstritten. Gewiß hat dieser Teufelsmaler mit seinen drastischen Szenen des Bösen und der Gewalt und mit seiner Symbolsprache mystischer Gläubigkeit gewisse Ähnlichkeiten mit dem Schöpfer des Isenheimer Altars und der Karlsruher Kreuzigung. Sicherlich mag auch zu dem oft gezogenen Vergleich beigetragen haben, daß die spärlichen Daten zur Biographie Bosch wie Grünewald zur geheimnisumwitterten Figur aufwerten.

Aber Boschs surrealistisches Pandämonium mit dem ganzen spektakulösen Arsenal von schockierenden Monstern und Spukgestalten, mit der ihm eigentümlichen alchemistischen Symbolik und den gotteslästerlichen Visionen steht dem konsequent radikalen Realismus Grünewalds völlig fern. Bei Bosch liegen die Verdorbenheit und das Lasterhafte im Menschen selbst, der als Kobold erscheint und dem in den diabolischen Darstellungen seine eigene Rolle deutlich wird. Auch wird bei Bosch die Typologie letztlich zynisch und komisch.

Bei Grünewald hingegen ergreift den gläubigen Menschen angesichts des unfaßlichen Schicksals Grauen und Entsetzten. Das Schicksal überwältigt den Menschen mit unbegreiflicher Macht.

Grünewald kann in der Tat schwerlich mit einem seiner malenden Zeitgenossen verglichen werden, aber er und Bosch und Pieter Brueghel wie auch Dürer mit seinen apokalyptischen Reitern oder die zahllosen Darstellungen von Weltgericht und Fegefeuer gestalten die wachsende Unrast der Zeit - jene aufgewühlte Epoche am Ausgang des Mittelalters, in der alle Ereignisse noch erfüllt waren vom göttlichen Mysterium und begleitet von einer Fülle von Predigten, Segnungen, Sprüchen, Prozessionen.

Die panischen Züge der Zeit, die durch Luthers aufrührerische Predigt, durch die ungezählten, auch marodierenden ketzerischen Bewegungen mit ihren Fanatismen und die Volks- und Wanderprediger, die das Gehör des mittelalterlichen Souterrains fanden, nur noch gesteigert wurden, zeigen sich im groben Kontrast und plötzlichen Wandel der Stimmungen: Glühende Leidenschaften und derbe Ausgelassenheit stehen neben starker Rührung und entsetzlicher Angst und höchster Empfindlichkeit für Tränen und Schmerz. Maßlose Eitelkeiten flammen ebenso auf wie die Scheiterhaufen. Und der grausame Reiz, der von den massenhaften bestialischen Hinrichtungen ausgeht, war ein Ferment in der vorwärtstreibenden Hysterie der Volksmassen.

Es sind jene seelischen Aggregatzustände und Affektentladungen und die durch die religiösen Mysterien  hervorgerufenen Ergriffenheiten, die die Malerei der Zeit gestaltet. Grünewald war von den Aufgeregtheiten seiner Zeit affiziert, wie die hinterlassenen reformatorischen Schriften aus seinem Nachlaß zeigen. Gleichwohl waren seine christlichen Glaubensmaximen unerschütterlich, wie seine grandiose Verklärung des auferstandenen Heilands auf dem Isenheimer Altar uns deutlich macht. Christus ist hier zur hell leuchtenden Sonne inmitten eines dunklen Weltalls geworden. Die auffahrende Christusfigur und die golden strahlende, den nachtschwarzen Sternhimmel beherrschende Heliosphäre bilden eine Einheit und veranschaulichen, daß das göttliche Gesetz mit absoluter Unbedingtheit gilt und von Christus die Erlösung kommt.

Die Karlsruher Kunsthalle bietet ein facettenreiches Bild der Kunst jener Zeit, vielleicht mit einem Zuviel an Zeichnungen, Graphik, Skulpturen von anderen Künstlern, so daß Grünewald fast etwas in den Hintergrund gerät. Für die Dauer der Ausstellung ist ein Busverkehr nach Kolmar eingerichtet. Wer die Zeit hat, sollte die Gelegenheit nutzen, zumal es in der romantisch-reizvollen Stadt zahllose Möglichkeiten zur gemütlichen Einkehr gibt.

Die Ausstellung "Grünewald und seine Zeit" ist bis zum 2. März in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, Hans-Thoma-Straße 2-6, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis 21 Uhr, zu sehen. Der Eintritt kostet 9 Euro (ermäßigt 6 Euro). Telefon: 07 21 / 9 26 33 59, Internet: www.kunsthalle-karlsruhe.de

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