© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/08 15. Februar 2008

Krise des deutschen Regierungssystems deutschen Regierungssystems
Kinder, überlaßt das Schwierige uns
Günther Gillessen

Gelegentlich gibt es selbst in der Politik Stunden der Wahrheit. Die Hessenwahl ist eine solche. Ihr Ergebnis ist Unentschiedenheit, Stillstand, Patt. Wer in der Wahlnacht jubelte, jubelte zu früh. Die Wahl erwies sich für alle Parteien außer den Spätkommunisten als Desaster. Deren Erfolg unterstreicht es sogar. Die Wahl in Hessen bestätigt, was die Bundestagswahl von 2005 ergeben hatte: Die Wähler weigern sich, Mehrheiten hervorzubringen, auf die sich Regierungen mit einem einigermaßen kohärenten Arbeitsprogramm gründen lassen. Was ist mit uns, dem Wahlvolk, los, oder was ist mit uns derzeit nicht mehr los?

Seit langem ist zu bemerken, daß die Nicht-Wähler zur größten Fraktion im Spektrum der politischen Optionen anwachsen. Es fehlt nicht viel, daß sie die Marke von 50 Prozent erreicht. Offenkundig schwindet bei immer mehr Bürgern das Bewußtsein dafür, daß die Angelegenheiten der Politik etwas mit ihnen selbst ("tua res agitur") zu tun haben. Statt dessen: Es ändert sich ja doch nichts. Der "gefühlte" Abstand zwischen dem eigenen Leben und dem politischen Betrieb wird größer, und die Sprache, die Politiker vor Mikrophonen benutzen, macht die Politik immer seltener hörenswert.

Es ist nicht hörenswert, es ist bedeutungslos, wenn eine Partei sich in Allgemeinheiten beschreibt, denen jeder zustimmen kann, solange sie nicht konkret werden, oder wenn sie sich als "Mitte" definiert, und andere das gleiche tun und alle dabei vermeiden, die Koordinaten des Standorts "Mitte" und den Kurs, der gefahren werden soll, anzugeben.

Ein Standort ist etwas anderes als eine Bewegung. Während die Volksparteien sich in der "Mitte" darstellten, geschah in Wirklichkeit etwas ganz anderes, und jeder konnte es sehen: Die SPD fürchtete um ihre linke Flanke und schloß nach links zu den Spätkommunisten auf (Schröder selbst hatte, wie man sich erinnert, im Wahlkampf 2005 damit begonnen, als er seine Agenda 2010 fahren ließ). Darauf bekam es die CDU mit der Angst zu tun und schloß ihrerseits zu den nach links gerückten Sozialdemokraten auf. So rutschte das gesamte deutsche Parteiensystem, ausge-nommen die FDP und der Wahlkämpfer Roland Koch, nach links.

Die beiden großen Parteien hatten durchaus eine andere Wahl gehabt. Sie hätten sich mit vielen guten Argumenten, die es gibt, offensiv und kämpferisch mit der linken Konkurrenz, auch derjenigen in den eigenen Reihen, auseinandersetzen können. Dies Versäumnis in der "Mitte", ihre in aller Breite vollzogene Seitwärtsbewegung nach links, macht den eigentlichen Erfolg der offiziellen Linkspartei aus - und damit weit mehr als die eigenen fünf oder sieben Prozent in drei westdeutschen Landesparlamenten.

Das Wahlvolk traut den Parteien nicht mehr viel zu. Das alte Nullsummenspiel zwischen den beiden großen Parteien funktioniert derzeit nicht mehr. Die Verluste der einen Seite werden der anderen nicht oder nur noch zu geringem Teil gutgeschrieben. Das zeigte sich auch da, wo der Wahlkampf nicht so schrill wie in Hessen, sondern halblaut und katzenpfötig wie in Niedersachsen, geführt worden war. Sollte es in Hamburg anders ausgehen?

Die Nicht-Wähler wachsen zur größten Fraktion im Spektrum der politischen Optionen an. Offenkundig schwindet bei immer mehr Bürgern das Bewußtsein dafür, daß die Angelegenheiten der Politik etwas mit ihnen selbst ("tua res agitur") zu tun haben.

Was bedeutet dieser Befund für das Regierungsgeschäft, den eigentlichen Zweck von Wahlen? Wenn zwei große Volksparteien kontinuierlich schwächer werden, und drei kleine Parteien im Spiele sind, von denen keine groß genug ist, um mit einer der beiden großen eine belastbare Allianz einzugehen, bleiben nur rechnerische Bündnisse möglich zwischen Partnern, die politisch nicht zusammenpassen.

In "unpassenden" Koalitionen muß dann mindestens eine Partei, wenn nicht sogar zwei oder alle drei, vor den Augen ihrer Wähler "umfallen", um eine Regierung nicht nur zum Stehen, sondern auch in Gang zu bringen. Wenn keiner der nicht zusammenpassenden Partner "umfällt", kann eine solche Koalitionsregierung weder etwas bewegen noch sich bewegen, und ihre Amtsführung verkümmert zur bloßen Geschäftsführung. Ihr Daseinszweck reduziert sich auf Selbsterhaltung in der Macht, ohne sie gebrauchen zu können.

So wird in Deutschland ein zweites Jahrzehnt vertan, ohne daß es zu durchgreifenden Reformen kommt. Freilich hielt auch früher, als Begriffe wie "Reformstau" und "Politikverdrossenheit" in Umlauf kamen, die Furcht der CDU, einen Teil ihrer Anhänger an die SPD zu verlieren, sie - trotz "passender" Koalition mit der FDP - davon ab, sich für eine konsequent liberale, die Selbständigkeit der Bürger befördernde Reform des Sozialstaates zu entscheiden.

Denn, so hat sich immer gezeigt, unter dem Druck gesteigerter Erwartungen an einen fürsorglichen Staat fällt die Führung der SPD in den eingefleischten Reflex zurück, nicht das volkswirtschaftlich und sozialpolitisch Vernünftige mitzutragen, sondern sich als die Schutzpartei der "Schwächeren" darzustellen. Und wenn das geschieht, läßt sich die CDU davor schrecken, in solcher Konkurrenz ausgestochen und der "sozialen Ungerechtigkeit" geziehen zu werden. Der Reflex der CDU ist, sich lieber wegzuducken und eine Herausforderung der SPD auf dem Felde des hypertrophen Sozialstaates nicht zu riskieren.

Die CDU fürchtet sich davor, die notwendige ordnungspolitische Debatte zu führen. Man erinnert sich, wie schmählich sie im Sommer 2005 "den Professor aus Heidelberg" (Gerhard Schröder) im Stiche ließ, als die Mehrheit der Parteioberen fand, Paul Kirchhoffs Ideen für die Steuerreform und die Erneuerung der Marktwirtschaft seien politisch "nicht vermittelbar". Die Union weiß eigentlich selbst nicht, wozu die Marktwirtschaft taugt. In der Breite der Partei, von ihrer Mitte bis an ihren linken Rand, hat die CDU das Erbe Ludwig Erhards nie wirklich angenommen. Sie weiß gar nicht, was dieser Schatz wert ist. Sie hat die einfache Wahrheit nicht verstanden, daß eine steigende Flut alle Boote hebt und die freie Marktwirtschaft "an sich sozial" (Ludwig Erhard) ist.

Furcht regiert die CDU auch auf anderen Gebieten. So glaubt der Verteidigungsminister, der deutschen Öffentlichkeit nicht mit eigener Autorität darstellen zu können, weshalb es im deutschen Interesse nötig sein solle (oder vielleicht auch nicht - doch dies ist hier nicht zu erörtern), eine verstärkte Kompanie Infanterie nach Afghanistan zu entsenden. Er glaubte, sich dazu erst mit einem bestellten Brief aus dem Nato-Hauptquartier auffordern lassen zu müssen.

Und wie verhält sich Ole von Beust im Hamburger Wahlkampf? Er meinte, man dürfe nicht über die Mißerfolge bei der Integration islamischer Immigranten sprechen; ein so ernstes Thema dürfte nicht zu einem Wahlkampfthema "degradiert" werden. Man weiß nicht, was man an diesem Wort mehr beklagen soll: die Hilflosigkeit eines politischen Führers vor einem brennenden innenpolitischen Problem oder die Anmaßung gegenüber den Wählern, darüber zu bestimmen, worüber sie mit Politikern streiten dürfen und worüber nicht.

Taktisch geschickter, aber in der Bedeutung nicht anders gab der Vorsitzende der SPD mit milder Landesväterlichkeit das Gebot aus, man solle einen Wahlkampf nicht dazu benutzen, "die Gesellschaft zu spalten". Soll heißen: Kinder, Schwieriges ist nichts für Euch, überlaßt das uns.

Egal, was der Wähler von den immer wieder geforderten, aber nur zaghaft begonnen Reformen der sozialen Sicherungssysteme oder von den Fesselungen des Arbeitsmarktes und der Dynamik des internationalen Wettbewerbs (Nokia) versteht oder auch nicht versteht, er bemerkt jedenfalls, daß die Führungen der beiden großen Parteien nicht Klartext sprechen und sich lieber mit den Grünen in die Hektik des "Klimaschutzes" flüchten. Die Wähler zweifeln, ob die Politiker selbst noch "durchblicken". Nicht heftig wie in der Weimarer Republik, aber in stiller Auszehrung geht das Vertrauen in die großen Parteien dahin.

Welche Folgen hat das für die Institutionen der Verfassung? Gesetzt den Fall, in den Ländern mehrt sich die Zahl unstimmiger Koalitionen, werden auch Institutionen der Verfassung darunter leiden. Als erstes würde der Bundesrat davon erfaßt. Dann wird es auch dort schwieriger, Mehrheiten für die Verabschiedung umstrittener Bundesgesetze zu finden.

Im Bundesrat gilt die Regel, daß eine Landesregierung ihre Stimmen nur einheitlich abgeben darf. Kann sie sich zu Hause, in der eigenen Koalition, nicht über das abzugebende Votum einigen, müssen sich ihre Vertreter im Bundesrat der Stimme enthalten. Da es zur Verabschiedung eines zustimmungspflichtigen Bundesgesetzes der Mehrheit der Stimmen des Bundesrates bedarf, wiegen Enthaltungen soviel wie Gegenstimmen.

Daran etwas zu ändern - und wäre das auch nur, daß Enthaltung sich auch als Enthaltung auswirkt -, erfordert verfassungsändernde Mehrheiten nicht nur im Bundestag, sondern auch im Bundesrat. Doch in einem Fünf-Parteien-System wird jede Partei eher noch mehr als in einem Drei-Parteien-System versuchen, sich die Möglichkeit zu erhalten, ein umkämpftes Bundesgesetz zu Fall zu bringen.

Die Ministerpräsidenten der Länder haben beharrlich verhindert, den historischen Bundesrat in eine zweite Kammer des Bundesparlaments zu verwandeln, in ein Staatenhaus nach dem Verfassungsentwurf der Frankfurter Paulskirche von 1849.

Da rächt sich, daß seit Jahrzehnten die Reform des Bundesrates ausgeblieben ist. Um über den Bundesrat in der Bundes- oder Reichsregierung mitregieren zu können, haben die Ministerpräsidenten der Länder seit dem Ende des Kaiserreiches beharrlich verhindert, den historischen Bundesrat in eine zweite Kammer des Bundesparlaments zu verwandeln, in ein zweites Haus nach Art des amerikanischen Senats, des Ständerats der Schweiz und des Staatenhauses im Verfassungsentwurf der Frankfurter Paulskirche von 1849.

Unser Bundesrat ist bis heute weder Fisch noch Fleisch, immer noch der Zwitter aus dem Gesandtenkongreß des Deutschen (Staaten-)Bundes von 1815 und den Prärogativen, die Bismarck bei seiner Reichsgründung den monarchischen Obrigkeiten der Länder gesichert wissen wollte, um den demokratisch gewählten Reichstag daran zu hindern, aus sich heraus die Reichsregierung zu bilden. Der alte Bundesrat war der Anker des wilhelminischen Halb-Konstitutionalismus. 1919 mißlang der erste Versuch, ihn umzubauen, und 1948/49 ein zweites Mal, als Konrad Adenauer und Kurt Schumacher es gemeinsam versuchten.

Bis heute wird der Bundesrat, der ein Organ des Bundes sein soll, noch immer von den Regierungen der Länder direkt beschickt und bleibt damit anfällig für Blockaden aus den Landesregierungen. Die Föderalismusreform-Kommission möchte auch heute nicht an die Beseitigung dieses elektrischen Kurzschlusses im Verhältnis zwischen den Regierungen der Länder und dem Parlament des Bundes denken.

Wird der Bundesrat von den Landesregierungen nicht entkoppelt, wird auch die Reform der Finanzverfassung bestenfalls Halbheiten zustande bringen. Ohne Änderung der Grundregeln zwischen Bund und Ländern werden die "ärmeren" Länder ihre langfristigen Chancen in Steuer-Autonomie und Steuerwettbewerb nicht erkennen, sondern an Mischfinanzierungen und engmaschigen horizontalem Lastenausgleich festhalten wollen. Im Fünf-Parteien-System wird jede Reform noch schwieriger.

Damit fällt der Blick wieder auf das Verhältnis zwischen Wählern, Gewählten und Parteien. Vom geltenden Wahlrecht ist keine Hilfe zu erwarten, eher das Gegenteil. Das Proporz- oder Listenwahlrecht, das vermeintlich gerechtere, das vermeintlich ausgleichendere Wahlrecht im Vergleich zum Wahlkreis-Mehrheitswahlrecht, begünstigt die Entstehung kleinerer Parteien. Es trägt nicht dazu bei, divergierende Interessen der Wähler schon vor dem Gang in die Wahlkabine zu integrieren. Es tendiert dazu, die Erledigung dieser Aufgabe der Parteien auf die Zeit nach dem Wahlakt zu verlegen, in die Koalitionsverhandlungen, detaillierte Koalitionsverträge, Koalitionsausschüsse.

Es stärkt - jedenfalls in der deutschen Praxis - die Macht der Parteivorstände in ihrem Verhältnis zu den Parlamentsfraktionen. Besonders auffällig ist das in "Großen Koalitionen". Und der einzelne Abgeordnete lernt unter der Herrschaft des Listenwahlrechts, mehr auf den Wind in seiner Partei als auf den unter seinen Wählern im Wahlkreis zu achten. Im Effekt kommt weniger Wählerwille in den Vorständen der Parteien und in den Parlamenten an.

Der Vertrauensverlust zwischen Wahlvolk und Parteien, der sich in der Aufspaltung des Parteiensystems und den zunehmenden Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung offenbart, läßt das ganze politische System in Schwierigkeiten geraten. Mängel der Verfassungsinstitutionen werden sichtbar, und es tröstet nicht, daß diese Mängel in Zeiten der Unentschiedenheit auch nicht beseitigt werden können.

 

Prof. Dr. Günther Gillessen leitete an der Universität Mainz das Journalistische Seminar und war politischer Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".

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