© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/08 22. Februar 2008
Marie-Luise Schultze-Jahn übernahm vor 65 Jahren die
Stafette der Geschwister Scholl Ohnehin wird den Ostpreußen nachgesagt, sie seien resolute Charaktere, die nicht so leicht den Lebensmut verlören. Mit dieser Eigenschaft muß auch die 1918 im ostpreußischen Sandlack geborene Marie-Luise Jahn reichlich bedacht worden sein. Denn ihr Leben setzte die heute in Bad Tölz wohnende Dame 1943 bereitwillig aufs Spiel: Nach der Hinrichtung der Geschwister Scholl am 23. Februar vor 65 Jahren vervielfältigte sie zusammen mit ihrem Kommilitonen Hans Conrad Leipelt konspirativ deren 6. Flugblatt und verteilte es an ihrem Studienort Hamburg. Damit steht Jahn für jene Teile der Widerstandsgruppe Weiße Rose, die angesichts der heutigen Fokussierung auf die Ur-Gruppe in München fast unbekannt sind. Anders als etwa die Geschwister Scholl lehnte Jahn allerdings schon als Schülerin den Nationalsozialismus ab, nachdem sie zufällig Zeugin von antijüdischen Ausschreitungen geworden war. Zusammen mit anderen sammelte das Paar zudem Spenden für die Witwe des ebenfalls hingerichteten deutschnationalen Hochschulprofessors Kurt Huber, der als Spiritus rector der Münchner Weißen Rose gilt. 1944 allerdings verhaftete die Gestapo auch Jahn und Leipelt. Er, ein mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichneter Soldat, der 1940 als "jüdischer Mischling" aus der Wehrmacht entlassen worden war, wurde im Januar 1945 hingerichtet. Sie, zu zwölf Jahren Haft verurteilt, wurde drei Monate später aus ihrer Zelle in München-Stadelheim befreit. Nach dem Krieg studierte sie Medizin und heiratete. 2003 veröffentlichte Schultze-Jahn ihre Erinnerungen an die Weiße Rose unter dem Titel "Und ihr Geist lebt trotzdem weiter". Auf Verwunderung stößt allerdings Schultze-Jahns Haltung, wonach es, wie sie in einem Brief an die JUNGE FREIHEIT formulierte, "trotz aller Opfer an Front und Heimat, die die letzten neuen Monate des Krieges gekostet haben ... für das Zustandekommen unserer Demokratie notwendig war, daß das Attentat vom 20. Juli 1944 fehlgeschlagen ist". Dieselbe Ansicht vertritt übrigens auch die FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher, auf die sich Schultze-Jahn dabei beruft. Diese Haltung stimmt bedenklich: Für die Durchsetzung ihrer politischen Idee hält Schultze-Jahn also offenbar die vielen in dieser letzten Phase des Krieges getöteten Zivilisten und Soldaten für ein akzeptables Opfer: Weltanschauung vor Menschenleben. Schließlich stellt sich die Frage, inwiefern eine derartige Haltung noch in Übereinstimmung mit dem Wollen der ursprünglichen Weißen Rose in München steht, der es in erster Linie um ein Ende der europäischen Selbstvernichtung durch Krieg und NS-Verbrechen ging. Dennoch bleibt Respekt und Anerkennung dafür, daß Schultze-Jahn in einer Zeit, in der schon Widerspruch den Tod bedeuten konnte - und in der man damit beinahe allein gegen alle stand -, den seltenen Mut zum Widerstand fand. |