© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/08 22. Februar 2008

Pankraz,
Prof. Simmel und die Vorlesung als Garten

Zum Simmel gehen" - das war im alten Berlin der Kaiserzeit um 1900 unter Topintellektuellen ein fester Begriff, der freilich zweierlei Bedeutung hatte. "Ich geh zum Simmel": Das konnte entweder heißen, man war zum "jour fix" in die Charlottenburger Westend-Villa von Georg Simmel eingeladen, oder es konnte heißen, man besuchte, ob extra eingeladen oder nicht, die wöchentliche Vorlesung von Georg Simmel in der Kaiser-Wilhelm-Universität Unter den Linden. Ob aber "jour fix" oder Vorlesung - man versprach sich in jedem Fall genußreiche Stunden und höchsten geistigen Gewinn davon.

Beim "jour fix" im Westend traf man Zelebritäten wie Rainer Maria Rilke, Gerhardt Hauptmann, Marianne und Max Weber, Martin Buber, Werner Sombart, Wilhelm Bode; an der Universität tauchte man ein in eine aufgekratzte Studentenschar aus den verschiedensten Fakultäten, die den Hörsaal bis auf den letzten Platz füllte, die Plätze jedoch teilen mußte mit oft denselben Zelebritäten wie beim "jour fix". Simmels Vorlesungen waren gesellschaftliche Ereignisse allerersten Ranges, zu denen "man" ging. So etwas hatte es seit Hegels Tagen nicht mehr gegeben.

Sowohl bei Hegel wie bei Simmel ging es darum, die Welt der Ideen und der geistigen Gespräche nach "objektiven", sich wie von allein zur Geltung bringenden Lebensgesetzen abzusuchen und die Einzelheiten in diesen Gesetzen sich spiegeln zu lassen. Simmel nannte dieses Geschäft "Soziologie", "formale Soziologie", aber was für eine merkwürdige Art von Soziologie war das! Sie bestand in erster Linie darin, die Einzelheiten vor den Gesetzen zu schützen, sie in ihrer Einmaligkeit voll aufleuchten zu lassen und dadurch wertvoll zu machen. Und wie Simmel das tat!

Für die meisten anderen Denker war die letzte Instanz auf der Seite der Einzelheiten, das "Atom", das sich mit dem Gesetz konfrontieren lassen mußte, eine Art Kleid, im Grunde ein hochkompliziertes Gebilde, in das bereits vielerlei Gesetze eingegangen waren. Simmel hingegen interessierte sich weniger für das Kleid als für dessen einzelne Bestandteile, für die Stoffe, den Faltenwurf, die Knöpfe, die Knopflöcher nebst deren jeweiliger Geschichte. Er war der Einzelheitsdenker, der Konkretdenker par excellence.

So wie die Physik seiner Zeit gerade daranging, das Atom, das bis dato angeblich Unteilbare, aufzuspalten in Elektronen und Protonen und Positronen und "Flavours" und "Charmes" usw., so spaltete Simmel die damals gängigen Sozialatome und Diskursatome auf, thematisierte ungeniert die wirklichen Einzelheiten, "den Rhythmus der Großstadt" etwa, den "Streit" (am Familientisch und im Universitätsseminar), die Gefühlskomponente in "Brücke" und "Tür", über die er extra Einzelvorlesungen ausschrieb.

Und je mehr er den Einzelheiten zuleibe rückte, um so schwankender und fragwürdiger wurde ihm der Begriff des Gesetzes. Während in der neuen Quantenphysik einstige Gewißheiten zu bloßen Wahrscheinlichkeiten ausdünnten und die alte Vorstellung von der "Materie" sich in einen wilden Tanz von Energien auflöste, dünnte parallel dazu bei Simmel die von Theologen wie Marxisten behauptete definitive Geordnetheit und Funktionalisierbarkeit des menschlichen Zusammenlebens zu einem heiklen Spiel aus Liebe und Zufall aus, und aus vielen scheinbaren Fakten wurden bloße Gefühle.

Georg Simmel (1858-1918) war ein "Lebensphilosoph", und er läßt sich gut einreihen unter die übrigen Lebens- und Existenzphilosophen seiner und der darauffolgenden Zeit, unter die Dilthey und Bergson, Kierkegaard und Nietzsche, Husserl und Heidegger. Indes, dies allein würde nie ausreichen, um die vielen Lorbeerkränze zu rechtfertigen, die ihm schon zu Lebzeiten zwar nicht vom universitären Establishment, aber von seinen Hörern geflochten wurden und die ihm auch heute wieder, anläßlich seines 150. Geburtstags am 1. März, geflochten werden dürften.

Was hinzukommt, um den Ruhm komplett zu machen, ist die außerordentliche Lebendigkeit und Wahrhaftigkeit seines akademischen Lehrstils. Simmel war ein epochales Phänomen akademischer Zuständigkeit. Ernst Bloch der alte Lehrer von Pankraz, hatte ihn noch in Berlin gehört, und was er über Simmels Vorlesungen zu vermelden wußte, nimmt sich für heutige Ohren geradezu sagenhaft aus.

Das begann schon damit, daß Simmel für seine ganze lange Lehrtätigkeit keinen einzigen Pfennig Geld forderte und auch keinen erhielt. Er war, früh verwaist, als Ziehsohn des reichen Berliner Münzsammlers und Mäzens Julius Friedländer aufgewachsen, dessen Vermögen er später erbte. Nach Dissertation und Habilitation etablierte er sich als freier Autor und als Privatdozent bzw. unbesoldeter Professor an der Berliner Universität. Erst spät, 1914, als er schon von unheilbarer Krankheit gezeichnet war, nahm er eine Berufung an die Universität Straßburg an ("aus deutschem Patriotismus", wie der linke Pazifist Bloch mit maliziösem Unterton erzählte).

Aller Glanz aber strahlt über den Berliner Jahren, genauer: über Simmels Berliner Vorlesungen. Als Gastgeber in Charlottenburg überließ er die meisten Pointen seiner Frau Gertrud (Kinel), die selber Schriftstellerin war. Auf die Vorlesungen Unter den Linden bereitete er sich penibel vor, hatte alles genau vorformuliert (um nicht "eventuell ins Schwimmen und Schwatzen zu kommen"), sprach aber durchgängig frei, klar und präzise, ohne rhetorische Effekthascherei, ohne die geringste theatralische Pose, doch mit größter innerer Leidenschaft, wobei er gern Schritte vom Katheder weg und zurück unternahm.

Es war - so noch einmal Bloch -, als pflegte da ein Gartenfreund behutsam, doch mit völlig sicherer Hand, seine Pflanzen. "Wo der hintrat, wuchs Gras." Sache und Vortrag wurden untrennbar eins. Man brauchte keinen Projektor, wie er heute so üblich wie unvermeidlich ist, um die Brücken und Türen leibhaftig vor sich zu sehen, die man betreten und durch die man hindurchgehen sollte.

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