© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/08 22. Februar 2008

Die Schwärmerei vom großen Nichts
Identität & Integration: Der Multikulturalismus als Kampfbegriff gegen die alte Ordnung / Fünfte Folge
Fabian Schmidt-Ahmad

Wer integrieren will, muß wissen, worin. Gibt es keine klare und wirkmächtige Idee vom Gemeinwesen, so ist jeder Versuch der Einbindung bereits von vornherein zum Scheitern verurteilt. Diese eigentlich banale Feststellung führt zur weniger banalen Frage, was wir überhaupt für eine Gesellschaft sein wollen. Besitzen wir hiervon keine Vorstellung, so können wir ein Integrationsdefizit nicht einmal begrifflich feststellen, geschweige denn politisch bekämpfen.

Was allerdings nicht heißen soll, daß die herrschende Politik hier etwa schweigt. Ganz im Gegenteil: Kaum schlägt man eine Zeitung auf, schaltet Radio oder Fernseher an, bekommt man schon gesagt, was wir für eine Gesellschaft werden sollen. Wir sollen eine "offene", eine "tolerante", vielleicht noch "antirassistische", aber auf jeden Fall eine "multikulturelle" Gesellschaft werden. Insbesondere auf letzteres legt man großen Wert. Denn der "Multikulturalismus" muß etwas ungeheuer Schönes und überaus Wertvolles sein, eine Bereicherung für unser Gemeinwesen.

Doch die samtig ergriffenen Stimmen unserer gesellschaftlichen Eliten, der fiebrige Glanz in ihren Augen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, daß dies alles bisher noch nichts anderes ist als eine Akkumulation von Phrasen, an die man angenehme Gefühle knüpft. Tatsächlich ersetzen diese keinen Begriff. Wo sich diese Schwärmerei überhaupt denkerisch zu einem Begriff formen will, existiert er nur in der Negation. Man sagt, was man nicht haben will: Man will nicht die alte Bundesrepublik.

1974 gab die damalige gesellschaftliche Elite eine Reihe von Festschriften heraus. Grund war das Jubiläum der nun fünfundzwanzigjährigen Bundesrepublik. Welchen Geist kann man hier noch - in Resten - einatmen? Es ist das Selbstverständnis einer Gesellschaft, die Aristoteles als die Gemeinschaft der Freien und Gleichen beschrieb: einer im Bewußtsein erfahrenen Leides zusammengeschmiedeten Bürgerschaft, die durch Herkunft und Kultur an gemeinsam vollbrachte Taten erinnert wurde. Eifersüchtig wachte sie über den Wechsel von Herrschern und Beherrschten und ging gegen jeden vor, der diesen anzweifelte.

War die alte Bundesrepublik ein gräßlicher Alptraum?

Heute ist dieser Geist aus den Köpfen wie weggefegt. Glaubt man nun der herrschenden Elite, so scheint dies alles nur ein gräßlicher Alptraum gewesen zu sein: ein Trauma, gegen das es ein Narkotikum gibt - den Multikulturalismus. Der Multikulturalismus ist ein immanenter Kampfbegriff gegen die alte Ordnung. Eigenständiger wird er dadurch freilich nicht. Wo auch immer in Deutschland man ein Buch zum Thema aufschlägt, wird man finden, wie sich die Autoren - meistens alles andere als sachlich - an der überkommenen Republik abarbeiten. Und unisono feststellen, diese müsse noch "offener", noch "toleranter" und so weiter werden.

Diese Forderung könnte legitim sein, würde man sie begründen. Aber dazu sind die Apologeten des Multikulturalismus nicht in der Lage. Denn dazu bräuchte man einen eigenständigen Gesellschaftsbegriff, der das republikanische Ethos ersetzen kann. So erschöpfen sie sich in völlig substanzlosen Forderungen nach immer mehr "Offenheit", immer mehr "Toleranz", was in der Praxis selbstverständlich zu nichts anderem als zur Auflösung von Staatlichkeit führt. Wer die Grenzen einer Republik niederreißt und eine "offene Gesellschaft" proklamiert, wer den Begriff des politischen Handelns durch "Toleranz gegenüber dem Anderen" aufhebt, der hat nichts geschaffen, sondern nur vernichtet - in diesem Fall den Garanten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Es dürfte das unterschwellige Bewußtsein eigener Impotenz sein, wenn man heute gerne so spricht, als verhalte es sich genau umgekehrt. Man redet dann von einer "Erfindung" der deutschen Nation, einer "Konstruktion" gemeinsamer Herkunft und Geschichte, als wenn dies alles willkürlich wäre und keine lebendige Idee dahinter stände. Dagegen möchte man gerne in der Geschichte "multikulturelle Gesellschaften" ausmachen. Mal ist es das römische Imperium, mal das Kalifat von Córdoba, die für diese Projektionen herhalten müssen. Auch die amerikanische Gesellschaft ist ein beliebter Kandidat, beispielsweise für Jürgen Habermas.

Im Aufsatz "Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat" macht Habermas zwei Stufen der Assimilation aus. Auf der ersten Stufe wird lediglich die "Zustimmung zu den Prinzipien der Verfassung" gefordert, auf der zweiten eine Assimilation auf der Ebene "ethnisch-kultureller Integration". Die liberale Einwanderungspolitik der USA sieht Habermas als vorbildhaft für die eine Stufe an. "Für die zweite Alternative ist die auf Germanisierung gerichtete Phase der (...) preußischen Polenpolitik im Bismarck-Reich ein Beispiel." Dies hätte ein Argument dafür sein können, wieso wir ein Staatsbürgerrecht nach amerikanischem Vorbild brauchen und die Besinnung auf eine deutsche Kultur ein Integrationshemmnis darstelle. Nur ist Habermas offensichtlich nicht gut in Geschichte bewandert.

Ein multikulturelles Paradies hat es noch nie gegeben

Denn die Polenpolitik des Deutschen Reiches war eine Reminiszenz an den Nationalchauvinismus, der auch andere Staaten beeinflußte. In den USA beispielsweise hätte sich der amerikanische Ureinwohner des Jahres 1871 - dem Jahr der deutschen Reichsgründung - glücklich schätzen können, wenn man ihn nur "germanisiert" hätte. Dagegen hat sich die deutsche Kultur in der tausendjährigen Geschichte eines Vielvölkerstaates entwickelt. Doch vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation als multikulturellem Paradies ist bisher nichts zu hören. In der Tat wäre dies absurd. So wie es auch absurd ist, das römische Imperium oder das Kalifat von Córdoba als multikulturelle Gesellschaften zu bezeichnen. Denn eine solche hat es noch nie gegeben.

Bei allen Unterschieden sind doch zwei Merkmale allen Reichen, Imperien und Kalifaten gemeinsam. Zum einen integrieren sie nur Völker, welche ihre Macht anerkennen. Der Stamm, das Volk, welches sich gegen Rom auflehnte, wurde von den Legionen erbarmungslos vernichtet und vertrieben. Die Pax Romana wurde mit Blut eingeschrieben und galt nur, solange das Imperium noch mächtig war. Zum anderen gehen sie stets von der Überlegenheit einer einzigen Kultur aus. Einem Römer wäre es äußerst eigenartig vorgekommen, die verschiedenen Kulturen seines Reiches irgendwie anders integrieren zu wollen als durch diejenige Kultur, die er als das Höchste empfand.

Die Pax Romana wurde mit Blut eingeschrieben

Doch nichts erscheint den Verkündern des Multikulturalismus verwerflicher. Schon die einfache Feststellung, daß in bestimmten Kulturen Verhaltensweisen gelebt werden, die vor unserem Gesetz schlicht Verbrechen sind, gilt als intolerant. Wer darüber hinaus noch zaghaft eine "Leitkultur" anspricht, macht sich endgültig zur Projektionsfläche multikulturellen Hasses. Statt dessen spricht man von der "Gleichwertigkeit aller Kulturen" und merkt nicht, daß man damit gerade zum Ausdruck gebracht hat, nicht einmal eine einzige Kultur zu verstehen.

Auf abstrakter Ebene sind Kulturen Systeme von Werten, die in sich einigermaßen harmonisch sind. Wenn nun einer Sache aus einer Kultur ein bestimmter Wert beigemessen wird, so kann dieser in unauflösbarem Widerspruch zu dem einer anderen Kultur stehen. Entweder ich sage: "In diesem heiligen Hain leben die Seelen meiner Vorfahren." Oder: "Dies ist geeignetes Bauholz für mein Haus." Entweder: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Oder: "Die Gesellschaft bestimmt, wer frei und wer unfrei ist." Diese Sätze lassen sich erst dann synthetisieren, wenn eine Kultur die andere dominiert und jene sich ihre Freiräume sucht.

Thomas Hobbes sagte einmal, wenn ein jeder das Recht auf alles habe, so hat niemand das Recht auf irgend etwas. Eine Kultur, in der alle Werte gleichzeitig am gleichen Ort gelten, ist in Wirklichkeit gar keine Kultur, sondern ein großes Nichts. Und eben das ist der Multikulturalismus. Immerhin räumt man hier mögliche Kulturkonflikte ein. Doch wie will man diesen begegnen? Durch Gespräche, durch Konferenzen, durch Begegnungen von Mensch zu Mensch. Doch sind dies Ausgleichsmechanismen, die für uns und einige andere Kulturen gelten.

Die meisten anderen Kulturen kommunizieren jedoch über Gewalt. Man glaubt heute, wenn man diesen etwas von Multikulturalismus erzähle, vermittle man ihnen das Gefühl von etwas Schönem und Edlen. Doch in Wirklichkeit ruft man ihnen nur zu: "Wir sind alt und sehnen uns nach der harten Hand eines jungen Volkes, welches uns sein Joch aufzwingt." Diese Botschaft des Multikulturalismus dürfte vielleicht gehört worden sein.

Bisher erschienen in dieser Reihe Beiträge von Götz Kubitschek ("Herr im Eigenen", JF 5/08), Karlheinz Weißmann ("Mit Worten müssen wir uns wehren", JF 6/08), Martin Lichtmesz ("Deutscher Paß, türkisches Herz", JF 7/08) und Robert Hepp ("Deutschland den Deutschländern?", JF 8/08). Die Debatte wird fortgesetzt.

Bild: Francisco de Goya, "Traum von gewissen Leuten, die uns auffressen" (1797/98): Wechsel von Herrschern und Beherrschten

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen