© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/08 22. Februar 2008
Soziale Kompetenzen Auf den ersten Blick handelt es sich nur um acht relativ unscheinbare Holzstangen, zwischen 1,80 und 2,50 Meter lang, an den Enden in haarnadelfeine Spitzen auslaufend. Aber auf den zweiten Blick handelt es sich um eine archäologische Sensation: Die etwa 400.000 Jahre alten Speere, die im niedersächsischen Schöningen gefunden wurden, sind die ältesten bekannten Jagdwaffen überhaupt. Im Rahmen des Braunkohle-Tagebaus werden in dem kleinen Ort am Elm seit fünfzehn Jahren wichtige Ausgrabungen durchgeführt, die es erlauben, ein anderes als das bisher übliche Bild des Frühmenschen zu zeichnen. Das Ausgrabungsgebiet war ursprünglich Teil einer Seelandschaft mit reicher Tier- und Pflanzenwelt, die für die ersten Jäger und Sammler wegen der Aussicht auf üppige Nahrungsquellen anziehend gewesen sein muß. Die hier gefundenen Speere aus Fichtenholz blieben nur durch eine Verkettung sehr günstiger Umstände erhalten; bisher gab es aus dieser Periode bloß steinerne Artefakte. Die Speere werden als Teil der Überreste eines temporären Jagdlagers mit Feuerstätten gedeutet, und diese Anlage samt der in der Nähe ausgegrabenen Skelette einer Wildpferdherde lassen nach Meinung des leitenden Archäologen Hartmut Thieme den Schluß zu, daß Homo erectus über erheblich stärkere kognitive und soziale Fähigkeiten verfügte als bisher angenommen. Sowohl die Herstellung und Bearbeitung der Speere als auch die Planung, die zum Töten der Herde, dem Nachzug des "Trosses" und der Verwertung der Beute nötig waren, legen jedenfalls den Schluß nahe, daß der Mensch schon in diesem Stadium seiner Entwicklung eine komplexe Organisation kannte, die große gemeinschaftliche Aktionen möglich machte, und eine Intelligenz besaß, die kaum ohne Sprache auskommen konnte. Der Fund von etwa zwanzig Pferdeschädeln, die nicht zerschlagen, sondern - wie Thieme meint - "respektvoll" behandelt wurden, macht sogar Spekulationen über das Vorhandensein eines Jagdkultes möglich, bei dem, wie aus späteren Phasen der Religionsgeschichte bekannt, Teile des erlegten Tieres bewahrt oder bestattet wurden, um dessen Geist zu versöhnen. Thieme äußert in dem Zusammenhang auch die Vermutung, daß die Speere nicht verlorengingen oder unbrauchbar waren, sondern ein Depot bildeten und aus rituellen Gründen abgelegt wurden, vielleicht weil sie durch die Tötung als verunreinigt galten. Mit den Funden von Schöningen, so Thieme in einem Beitrag des vorzüglich gestalteten Katalogbandes, sei auch der Auffassung vom Frühmenschen als "Aasfresser" und dem Fehlen der Sprachfähigkeit noch im Fall des Neandertalers viel von ihrer Plausibilität genommen. Vielmehr erscheine schon dieser Vorfahr aus der Altsteinzeit dem heutigen Menschen ähnlich und beeindrucke durch seinen Erfindungsgeist. Bei Versuchen mit Nachbauten der Speere wurden Wurfweiten von siebzig bis achtzig Metern erreicht; die Waffen sind vorzüglich austariert und dringen tief in das Zielobjekt ein. Hermann Rieder hat in dem Zusammenhang die These aufgestellt, daß die Verbände des Homo erectus eine Größe von fünfundzwanzig Personen nicht überschritten, daß die Zahl der Jäger etwa fünf betrug, von denen möglicherweise zwei sehr gute Werfer waren. Die übrigen Männer und die Halbwüchsigen dienten vielleicht als Waffenträger, die Älteren waren aufgrund ihrer Erfahrung in erster Linie mit der Fertigung oder Reparatur der Waffen beschäftigt. Separate Spitzen aus anderem Material als Holz - Knochen, Stein oder Geweihenden - besaßen die Jagdspeere von Schöningen noch nicht, was zusätzliche Anforderungen an die Kraft und Zielsicherheit des Werfers stellte. Foto: Wildpferd der Altsteinzeit, Speer im Wasser: Beeindruckender Erfindungsgeist Die Schöninger Jagdspeere werden noch bis zum Ende des Monats im Landesmuseum in Braunschweig, Burgplatz 1, gezeigt und danach ab 28. März im Landesmuseum in Hannover. Der Begleitband (248 Seiten, mehr als 200 farbige Abbildungen, broschiert 19,90 Euro, gebunden 29,90 Euro) ist im Theiss-Verlag erschienen. |