© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/08 29. Februar 2008

CD: Klassik
Einspruch
Jens Knorr

Mit jeder neu erscheinenden CD der Kurt-Leimer-Edition, initiiert von der Zürcher Kurt Leimer Stiftung, wächst die Beschämung, von diesem großen Pianisten und gar nicht so kleinen Komponisten des 20. Jahrhunderts bisher so wenig bis gar nichts gewußt und gehört zu haben. Die Furie des Verschwindens ereilt eben nicht nur die Meister aus längst vergangenen Jahrhunderten, sondern ebenso die aus unserer jüngeren Vergangenheit. Wo jährlich ein neuer Star die Verkaufszahlen der führenden Musiklabels in die Höhe treiben muß, wo in den Kaufhäusern Tonträger nach zweifelhaften Bestenlisten sortiert sind, da scheint kein Platz für einen, dessen Spiel sich schnellem Konsum sperrt, weil er Kunstfertigkeit ganz in den Dienst des zu interpretierenden Stücks stellt, ohne jenen Überschuß feilzubieten, der gemeinhin als Ausweis von Virtuosität gilt.

Leimers kompromißlose Haltung kommt einem Werk zugute, das auf Publikumserfolg und auf sonst gar nichts hin komponiert scheint: George Gershwins Concerto in F, sein "New York Concerto", uraufgeführt 1925, ein Jahr nach dem triumphalen Erfolg der "Rhapsodie in Blue". Wer den prankenschweren Anschlag des Klaviertitanen oder den smarten des Tasten-Yuppies erwartet, dem wird Leimers nüchtern distanzierter Ton dem schmissigen Broadway-Stück wohl unangemessen vorkommen. Gershwins jazziges Idiom beherrscht Leimer ohne schmierige Anmache. Wenn er an den abwechselnden Solostellen des Mittelsatzes thematische Arbeit aufzuzeigen sucht, scheint er die Komposition zu überfordern, aber wenn er zum Ende des Dialogs von Klavier und Soloflöte die Klavierstimme völlig in den Schlußakkord der Holzbläser aufgehen läßt, dann macht er ihre verborgene Dimensionen offenbar. Zu deutsch, würden US-Amerikaner von Leimers Interpretation sagen - nicht zu amerikanisch, sagt der Rezensent.

Zu den vielfältigen Aktivitäten der Kurt-Leimer-Stiftung gehören Restaurierung und Neuveröffentlichung der Tonaufnahmen, die Kurt Leimer hinterlassen hat. (www.kurtleimer.ch) Die dritte von geplanten acht CDs enthält neben der Einspielung von Gershwins Concerto in F mit dem Skyline Symphony Orchestra unter Günter Neidlinger aus dem Jahr 1972 auch die von Leimers Klavierkonzert Nr. 4 mit dem Symphony of the Air Orchestra New York unter Leopold Stokowski aus dem Jahr 1961, der 1956 auch die Uraufführung mit dem Komponisten am Flügel dirigiert hatte (Colosseum Classics COL 9202.2).

In ihren maßlosen Übergipfelungen, aus der Not geboren, eine Synthese heterogener Elemente erzwingen zu wollen, die objektiv nicht mehr zu erzwingen ist, scheint die halbstündige, einsätzige Komposition den hoffnungslos vergangenheitssüchtigen Kompositionen eines Furtwängler nahe. Sonaten- und Rondoform sind ausweglos ineinander verkeilt, und der Demiurg packt mit festem Griff das Dunkel. Nicht allein die exorbitanten pianistischen Schwierigkeiten des Klavierparts dürften der Verbreitung des Werkes hinderlich gewesen sein, sondern auch Verwirrung, Furcht oder Schrecken der Hörer vor der Energie, mit der das unerledigte Alte aus Leimers Gestern in sein Heute hineindrückt und das unbegriffene Neue aus seiner Gegenwart in die Zukunft. Leimers 4. Klavierkonzert, zumal in der Interpretation durch den Komponisten, könnte als eine Notwehrhandlung gegen die Welt der fünfziger Jahre gehört werden, in der die Claims zwischen musikpädagogischer Bewegung und seriellem Experiment längst aufgeteilt schienen.

Daß sich selbst in der allwissenden Enzyklopädie MGG ("Die Musik in Geschichte und Gegenwart") kein Eintrag über Kurt Leimer findet, ist ein wirkliches Desiderat.

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