© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/08 29. Februar 2008

Bretter, die den Tod bedeuten
Die Bühne als Pestersatz: Eine Erinnerung an den vor sechzig Jahren verstorbenen französischen Theater-Magier Antonin Artaud
Harald Harzheim

Er wußte, daß er nicht im Liegen sterben würde, und so geschah es. Am 4. März 1948 saß Antonin Artaud zusammengesunken auf seinem Bett, tot: zerfressen von einem Darmkrebs und einem schmerzhaften Nervenleiden, das als Folge einer frühkindlichen Hirnhautentzündung sein Leben in eine Hölle verwandelte. Artaud, in Marseille zur Welt gekommen, bis 1926 Mitglied der Surrealisten-Bewegung, starb 51jährig als Legende. "Der Schrei Artauds - wie derjenige Edvard Munchs - steigt aus den 'Höhlen des Seins'", erklärte der Surrealisten-Papst André Breton und prophezeite: "Die Jugend wird immer diese verbrannte Oriflamme als die ihre anerkennen."

Artauds Name ist vor allem mit dem "Theater der Grausamkeit" verbunden, einer der pointiertesten Gesellschaftstherapien des vergangenen Jahrhunderts. Darin erklärt Artaud die Pest zu einer primär spirituellen Krankheit, die sich erst im Erreger manifestiert, wenn eine Gesellschaft im Kern bereits "erkrankt" und faulig sei. Dann sorge der Ausbruch der Epidemie für eine orgiastische Katharsis: entweder Tod oder maßlose Läuterung. Heutzutage, im Zeitalter der Medizin, müsse das Theater die Funktion der Pest übernehmen. Artaud verlangt vom ihm den Pestersatz: Interaktiv sollte es sein, die Schauspieler rasen lassen, kein psychologisierendes Spiel mit (klassischer) Textgrundlage zelebrieren, sondern "grausamen", d.h. unerbittlich intensiven Ritus zur Katharsis der Gesellschaft.

Aber wie in einer atheistischen Kultur verbindliche Rituale kreieren? Hier ist die Schwachstelle des "Theaters der Grausamkeit", an der es scheitern mußte. Also machte Artaud sich 1935 auf, diese Riten in einer außereuropäischen Kultur zu suchen. Er fand sie in Mexiko, bei den Tarahumara-Indianern. Dort unterzog sich Artaud einem Initiationsritual, bei dem er halluzinogenen Peyotlsaft trank. 

Ein ganz anderes "Theater der Grausamkeit" bot ihm nach Ausbruch einer Schizophrenie der Psychiater Gaston Ferdière, der den Theatervisionär seit 1943 mit Elektroschocks behandeln ließ: ein psychiatrisches "Ritual", das ihn regelmäßig in Raserei, Erschütterung, dann Trance und Agonie versetzte. Artaud fühlte sich derart bedroht, daß er den "Führer" der Besatzungsmacht per Brief aufforderte, ihn aus der Psychiatrie zu befreien. Angeblich hatte er Hitler im Berlin des Jahres 1932 kennengelernt. Damals hatte Artaud vergeblich Kontakt zu Bertolt Brecht und Max Reinhardt herzustellen versucht und eine kleine Rolle in G. W. Pabsts Verfilmung der "Dreigroschenoper"(1931) übernommen.  

Nach dem Krieg beschuldigte Artaud die westliche Gesellschaft, weil sie sein "Theater der Grausamkeit" abgelehnt und damit dem "unreinen Böhmerwäldler" (gemeint ist Hitler) auf "allen Bühnen eines totgeborenen Theaters den Platz überlassen" habe. Hitler, das war ein Pestersatz, ein Konkurrent um das "Theater der Grausamkeit", mit dem Artaud die Kultur revolutionieren wollte. So erklärt er dessen Machtergreifung durch die eigene Theatertheorie.

Wie kaum ein anderer hat Artaud die moderne Bühne inspiriert: Peter Brook, Jerzy Grotowski, das "Living Theatre" - undenkbar ohne ihn. Freilich hätte dem Körperfeind Artaud das libertine Element des letzteren mißfallen. Dessen finale Vision des Theaters - ein Jahr vor seinem Tod zu Papier gebracht - war ein magisches Ritual, das den alten, schmerzgequälten Leib durch einen neuen, organlosen ersetzen sollte.

"Artaud ist der Ernstfall", erkannte der deutsche Dramatiker Heiner Müller. "Unter der Sonne der Folter, die alle Kontinente dieses Planeten gleichzeitig bescheint, blühen seine Texte. Auf den Trümmern Europas gelesen, werden sie klassisch sein."       

Der Pflege des literarischen Schaffens von Antonin Artaud hat sich hierzulande vor allem der Verlag Matthes & Seitz angenommen. Internet: www.matthes-seitz-berlin.de.

Foto: Antonin Artaud als Marat in "Napoléon" (1927)

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