© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/08 14. März 2008

Von Grabräubern und eitlen Träumen
Bericht aus Schilda: Wie das Leipziger Karl-Marx-Relief zum Fetisch eines knallharten Kulturkampfes wurde
Thorsten Hinz

Das Karl-Marx-Relief, das bis 2006 das Hörsaalgebäude der Leipziger Universität verzierte, ist sieben Meter hoch, 14 Meter breit und 33 Tonnen schwer. Zu DDR-Zeiten wog es noch eine Tonne mehr - vom Taubenkot, der sich darauf abgelagert hatte. Doch nicht einmal der reichte aus, dem Monstrum seine einschüchternde Wirkung zu nehmen. Diese Wirkung war beabsichtigt. Das Relief wurde genau an der Stelle des Ostgiebels der 1968 gesprengten Universitätskirche installiert - als "eine gewalttätige Blasphemie perfidester Art" und "ein monströses Kampfinstrument des SED-Staates", so Pfarrer Christian Wolff von der Thomaskirche. Selbst die Staatsfrömmsten empfanden bei seinem Anblick nur Bedrückung und Peinlichkeit. Trotzdem wurde es erst 2006 entfernt, und das auch nur, weil der gesamte, aus den siebziger Jahre stammende Gebäudekomplex abgerissen wurde.

Zeit genug, um den Fetisch eines Kulturkampfes daraus zu machen. Die Universitätsleitung wollte das Relief an zentraler Stelle, am neu zu errichtenden Universitätscampus in der Innenstadt  aufstellen. Eine "exponierte Stellung" in der Stadt hatte auch die PDS gefordert. Der Meinungskampf war und ist heftig.

Der Dirigent Kurt Masur, "eine Jahrhundertfigur aus Deutschland, ein Dirigent, der im großen Weltenumschwung von Leipzig aus mit Autorität, Klugheit und Menschlichkeit Geschichte gemacht hat, ein Musikmeister in New York, in Paris, in London, der doch in Leipzig im Gewandhaus (...) seinen emotionalen Urboden hat" (in der unübertrefflichen Formulierung des Historikers Michael Stürmer), wurde in der Auseinandersetzung der "Weltfremdheit" und "Unwissenheit" geziehen. "Man merkt, daß diese Leute am Parteilehrjahr nicht teilgenommen haben, sonst wüßten sie wenigstens etwas über die Marx'sche Analyse der menschlichen Gesellschaft", giftete ein Leserbriefschreiber in der Leipziger Volkszeitung (LVZ). Eine Skurrilität, sicher, die in ihrer Mischung aus Ressentiment und Provinzialität aber für eine starke Tendenz steht.

Unter Mitwirkung der sächsischen Wissenschaftsministerin Eva-Maria Stange (SPD, bis 1988 SED) wurde beschlossen, das Relief auf einem Universitätscampus außerhalb des Zentrums aufzustellen. Die Kosten betragen 300.000 Euro. Möglicherweise ist auch das noch nicht das letzte Wort, denn Finanzminister Stanislaw Tillich (CDU), die Argumente der Relief-Gegner aufnehmend, hat vorgeschlagen, das Monstrum flachzulegen und mit einer Decke aus Plexiglas zu versehen. Zusätzliche Mittel  könnten durch Umschichtungen im Haushalt freigemacht werden.

Wenn es nur um ein Artefakt aus überwundenen Zeiten ginge! Doch der Bericht aus Schilda erzählt von einem knallharten symbolpolitischen Konflikt. Die Auseinandersetzung um das Marx-Relief ist unauflöslich mit dem Streit um den originalgetreuen Wiederaufbau der 1968 gesprengten Universitäts- bzw. Paulinerkirche verklammert ( JF 4/08). Wer für das Relief eintritt, will in der Regel die Kirche verhindern. Der Paulinerverein konstatiert: "Der Pauliner-Altar soll nach den Vorstellungen der Universitätsleitung nicht wieder an seinen Platz. Für die Restaurierung der Epitaphien und der Kanzel wären 300.000 Euro ein traumhaftes Budget."

Doch die Verhältnisse sind andere. Der Bürgerrechtler und heutige Dresdner CDU-Bundesabgeordnete Arnold Vaatz hat in einem Leserbrief an die Leipziger Volkszeitung auf die Schwäche der einstigen DDR-Revolutionäre hingewiesen. Ihr Defizit an "Herrschaftswissen, Führungserfahrung, Personalkenntnis, materieller Ausstattung, Frechheit und Dreistigkeit" habe ihren Gegner ermöglicht, "Komplizen aus den westdeutschen Apparaten (zu rekrutieren). Diese halfen ihnen zunächst, sie zu adaptierten. Als Dank durften sie sich die Lebensträume ihrer Eitelkeit erfüllen und in Ostdeutschland Führungspositionen übernehmen, die sie im Westen nie erlangt hätten. Dort nahmen sie (...) in feiner Witterung die Herzensanliegen der alten ostdeutschen Eliten auf und setzten sie mit dem Eifer verspäteter Helden der Arbeit um." Die Zeit sei nun reif, nach der Sanierung der Machtpositionen diese auch zur Schau stellen, so der Sprecher der Kommission Aufbau Ost der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. "Daß sich möglichst viele Protagonisten der Revolution von 1989 durch dieses Zur-Schau-Stellen von Macht beleidigt und gedemütigt fühlen, ist beabsichtigt."

Der Leipziger StudentInnenrat adaptiert und reproduziert die Machtverhältnisse. Als Dresden 2005 seine wiedererrichte Frauenkirche feierte, wurde über dem Marx-Relief ein Transparent entrollt: "Leipzig ist nicht Dresden. Gott sei Dank."

So notwendig, aufschlußreich und repräsentativ diese politische, mehr oder weniger in Links-Rechts-Frontstellung geführte Auseinandersetzung auch ist - ihre zweite, verborgene Funktion scheint darin zu liegen, eine andere, nicht minder brisante gar nicht erst aufkommen zu lassen. Im Sommer 2007 stieß man bei den Schachtarbeiten auf dem Geländer der Universitätskirche auf zum Teil mittelalterliche Mauerreste. Die Bauarbeiten wurden dennoch fortgesetzt.

Der Grund für die unterlassene archäologische Erschließung liegt möglicherweise ganz woanders als im Terminzwang. Im September 2007 erschien in der Wochenendbeilage der Berliner Zeitung ein langer Artikel über eine streng geheime Kommandoaktion, die sich unmittelbar vor der Sprengung in der Paulinerkirche abgespielt hatte. Er stützte sich auf die Nachforschungen des Leipziger Physiker Manfred Wurlitzer, der einen Beteiligten der Aktion ausfindig gemacht hatte.

In der Kirche befanden sich 800 alte Gräber der städtischen Oberschicht. Nach Aussage des Zeugen wurden Knochen, Kleiderreste und Grabschmuck aus den Sarkophagen geklaubt. Der Schmuck wurde an Aufpasser übergeben, der Rest aber in Särge gestopft. Der Zeuge erinnert sich an "goldene Rosen" und an große verzierte Teller, darauf eingraviert Name, Geburts- und Sterbedatum des Verstorbenen. Niemand weiß, wo die wertvollen Preziosen geblieben sind, keinerlei Akten existieren über den Grabraub - erstaunlich in der aktenversessenen DDR.

Nun gibt es eine interessante Koinzidenz: Ende 1966 war die Behörde "Kommerzielle Koordinierung" (KoKo) des Devisenbeschaffers Alexander Schalck-Golodkowski gegründet worden, die einen Teil ihrer Erlöse durch den Verkauf von Kunst und Antiquitäten im Westen erzielte. Die Kirchensprengung erfolgte am 30. Mai 1968. Unmittelbar darauf, im Juni 1968, trat eine geänderte "Verordnung zum Schutze des deutschen Kunstbesitzes" in Kraft, welche die Ausfuhr von Kunst mit "besonderer historischer Bedeutung" aus der DDR erlaubte. Ist das wirklich nur Zufall oder ein Hinweis auf eine deutsch-deutsche Hehlerei? Die Bundesrepublik hätte sich dann nicht bloß an den unterdrückten "Brüdern und Schwestern", sondern auch am Kulturgut der Nation vergangen. Der Schweigeverpflichtung, die den Beteiligten der Kommandoaktion 1968 auferlegt wurde, folgte 1990 eine Schweigevereinbarung.

Der Bericht über den Grabraub und den möglichen Zusammenhang mit der KoKo wurde in lokalen und regionalen Medien aufgegriffen, jedoch nicht überregional. Eine wiederrichtete Universitätskirche implizierte somit die Frage, wie die Deutschen es in Zeiten der Teilung miteinander gehalten haben. Jene aber, die sich heute aufgeklärt und modern wähnen, die deshalb einen Säkular- statt einen Sakralbau wünschen, am besten mit einem Marx-Relief daran, sollten von Marx, dem Dialektiker, lernen und die Möglichkeit prüfen, ob sie, indem sie den großen Denker zum Fetisch herabwürdigen, nicht eine weitere, gegen sich selbst gerichtete Blasphemie begehen - und für diejenigen, die Kultur und Geschichte wie Immobilien in Ware verwandeln, nützliche Idioten abgeben.

Foto: Karl-Marx-Relief am ehemaligen Hauptgebäude der Universität Leipzig: Das 1973 angebrachte Bronze-Relief gilt als eines der bekanntesten Relikte aus DDR-Zeiten. Im August 2006 wurde es demontiert und in Einzelteile zerlegt. Jetzt soll es hinter der ehemaligen Hochschule für Körperkultur und Sport (DHfK) wiederaufgebaut werden.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen