© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/08 14. März 2008

Möglichkeiten des "Ich nicht"
Bildung: Die Winterakademie des Instituts für Staatspolitik beschäftigte sich mit dem Thema "Masse"
Christian Rudolf

Etwa vierzig Teilnehmer der nunmehr 8. Winterakademie des Instituts für Staatspolitik (IfS) kamen am vergangenen Wochenende ins kleine sachsen-anhaltinische Schnellroda. Als Menge waren sie auf der stillen Hauptstraße erlebbar, über die zwischen evangelischer Kirche, Wasserturm und Gehöften gewöhnlich nur Katzen schleichen oder sommers der Eiswagen bimmelt. Die Teilnehmer - Schüler, Studenten, junge Akademiker - füllten den Saal des Ritterguts bis auf den letzten Platz an. Im Schankraum des Landgasthofs übertraf ihre Zahl die der Einheimischen bei weitem; zu später Stunde, der Becher kreiste, war ihr bündischer Gesang weithin vernehmbar. Eine Menge Menschen auf engem Raum - aber auch eine Masse?

Diesen Begriff und den verwandten der "Massengesellschaft" zu erhellen und dessen unterschiedliche Aspekte zu beleuchten, standen sieben Vorträge unterschiedlichen Gewichts auf dem dreitägigen Programm. Von Theorien zur Masse über Massenpolitik und Masseninszenierungen bis hin zur Abkehr von der Masse und Gegenbegriffen war der thematische Bogen weit gespannt.

Eine thematische Einführung versuchte der Politikwissenschaftler Michael Böhm (Berlin) mit einer soziologischen Herangehensweise. Die Massengesellschaft, ein im 20. Jahrhundert durch die Sozialwissenschaften geprägter, negativ besetzter Begriff, faßte Böhm als die "konsequente Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft". Begriffe wie Unabhängigkeit, Selbstverwirklichung, eigenverantwortliches Leben sind der heutigen Generation in die Seelen gegossen und unhinterfragt. Ein vielschichtiger emanzipatorischer Prozeß war dem vorausgegangen: Okzidentale Logik, Untergang der altständischen Gesellschaft mit ihren Hierarchien, Zerfall der kirchlichen Einheit, Luthertum, kapitalistische Produktionsverhältnisse, Französische Revolution, zuletzt die Kulturrevolution von 1968ff. Als entscheidenden Auslöser in der als folgerichtig ausgebreiteten Entwicklung sah Böhm das Christentum mit seinen "Freien und Gleichen" - eine These, der sich nicht jedermann anschließen mochte. Wurde das Individuum erst durch die christliche Lehre geboren - und durch Denker wie Luther noch aufgewertet, oder war die Individualität schon vorher da und bereitete dem Christentum den Boden? Ein Schlagabtausch gegensätzlicher Positionen in der anschließenden Diskussion führte nicht zu Klärung.

Frank Lisson (Würzburg) beschrieb mit seinem fulminanten Vortrag über "Theorien zur Masse" eine Verfallsgeschichte. Nach Aristoteles ist der Mensch ein gemeinschafts- und staatsbildendes Wesen. Früh läßt sich das Prinzip der Gleichheit innerhalb derselben Schichten nachweisen. Sich zusammenzuschließen, vervielfachte gerade für ein Mängelwesen wie den homo sapiens die Überlebenschance: Nirgendwo findet der Mensch mehr Schutz als in der Menge, und daher die Anziehungskraft der Masse auf den Menschen. Doch auch für absondernde Geschiedenheit gibt es viele Beispiele, von den römischen Patriziern mit ihrer Vorliebe für Villen als Rückzugsdomizile außerhalb der Städte  über die Einzelgehöfte der Germanen bis hin zu den Skandinavien-Reisenden heute. Beide Bedürfnisse stehen miteinander im Widerstreit; nach Hegel beruhe gar der geschichtliche Prozeß auf dem Kampf um Vorherrschaft des solitären oder des sozialen Typus.

Elias Canetti analysierte den Drang des Menschen, aktiver Bestandteil einer Masse zu werden, als Sehnsucht, die trennenden Schranken und Unterschiede zum anderen zu überwinden und sich gleich zu fühlen - Fußballfans und Besucher von Rockkonzerten wissen von dem Hochgefühl der Entladung. Allein, Menschen, die sich plötzlich gleich fühlen, sind nicht wirklich und für immer gleich - gehen sie auseinander, zerfällt die Masse, und die Distanzen treten erneut zutage. Da ist Nietzsches "Pathos der Distanz" stabiler angelegt.

Beide Typen, führte Lisson aus, sind im Massenzeitalter zu einander ausschließenden Totalitäten geworden. Dabei ist von der Vorstellung einer physisch vorhandenen Menschenmenge abzugehen - "Masse generiert sich nicht durch viele Menschen an einem bestimmten Ort, sondern durch die Art der Charaktere, die da sind" -, ein bei Canetti unberücksichtigter Aspekt, den Peter Sloterdijk ausgeführt hat. Nicht jedes größere Kollektiv, jede Gruppe, ist schon Masse, und die Absage an jene kann Hinwendung zum Volk bedeuten. Mehr nebenbei war damit auch Antwort auf die Frage gegeben, wie es sich mit den Hörern der Akademie verhält.

Der früher evidente Geborgenheitscharakter, den Massenaufmärsche stifteten, ist im Zeitalter medialer Vermittlung einem eher virtuellen Zugehörigkeitsgefühl gewichen.

Ortega y Gasset beschrieb im "Aufstand der Massen" nicht etwa Volkserhebungen, sondern den sozialen Paradigmenwechsel, der mit dem Aufstieg des charakterlichen Massenmenschen Platz griff. Das Wesentliche und Vornehme fand sich degradiert, das Durchschnittliche heroisiert. "Hyperdemokratie" nannte der Spanier die Staatsform, in der alles nach den Bedürfnissen der Massenmenschen ausgerichtet ist.

Heute ist die "Macht des Banalen beinahe unwiderstehlich, denn sie appelliert permanent an das Zugehörigkeitsgefühl des einzelnen, das nur dort wirkliche Erfüllung erwartet, wo die meisten sind: in der Menge der zeitgemäßen Mitmacher" (Sloterdijk). Für Gedankenfreiheit ist da kein Platz. Alexis de Tocqueville sah bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Demokratie einen völlig neuen Despotismus heraufziehen, der sich freilich erst auf den zweiten Blick zeige. Jeder, der jenseits standardisierter Pseudodifferenz wirklich ausscheren will, sieht sich völlig auf sich selbst zurückgeworfen.

Karlheinz Weißmann (Göttingen) rekonstruierte in seinem anschließenden Vortrag zu Massenpolitik und Massenpsychologie die verschiedenen geschichtlichen Versuche des aktiven Eingreifens, um Massen zu führen, deren Existenz spätestens mit dem 19. Jahrhundert nicht mehr zu leugnen war. Nach dem Scheitern radikaler Varianten von Massenpolitik glaubten viele, daß nach 1945 dem Sozialstaat mit seiner nivellierten Mittelstandsgesellschaft allein die Zukunft gehören und sich das Modell im globalen Maßstab verwirklichen lassen würde.

Wie Weißmann lebendig darlegte, liegt das eigentliche Problem in inneren Erosionserscheinungen, die in der Massengesellschaft selbst angelegt sind: Verlust der Bindungen und sozialer Disziplin, Abbruch der Tradition, demographischer Niedergang. Die kulturellen Bestände könnten aufgebraucht sein, und, so Weißmanns nur auf den ersten Blick überraschende These, in den kommenden Verteilungskämpfen werde es um die knappe Ressource Identität gehen, welche das westliche Gesellschaftsmodell nicht stiftet. "Identität ist eine Voraussetzung jeder guten Ordnung, was auch heißt, daß die Massengesellschaft keine gute Ordnung ist." Trotz verdunkelten Horizonts erteilte Weißmann defätistischen Gedanken eine Absage: "Geschichte ist immer offen."

Nach theoretischer Zurüstung wandten sich drei folgende Beiträge konkreten Lebensbereichen zu: Jan Wilhelms (Hannover) untersuchte das Verhältnis von Masse und Internet. In Diskussionsforen, Weblogs und Kommentarspalten von Online-Zeitungen tobe sich eine ordinäre "Schrei- und Brüllkultur" aus, die Ventilfunktionen habe, doch tatsächlich unpolitisch sei. Erik Lehnert (Berlin) stellte vor dem Hintergrund rücksichtsloser Naturzerstörung schon um 1900 letztlich untaugliche Versuche der Lebensreformbewegung dar, schädlicher Lebensweise durch Aussteigen zu entkommen. Die verschiedenen Verhaltensweisen von Menschenmassen, ihre ad-hoc-Bildung, ihre Dynamik wie ihren spontanen Zerfall, zeigte Martin Lichtmesz (Berlin) anhand von Ausschnitten aus Fritz-Lang-Filmen mit eindrucksvollen Masseninszenierungen.

Der abschließende Vortrag Till Kinzels (Berlin) suchte in seiner Apologie der Absonderung nach Möglichkeiten des "Ich nicht". Er warnte unüberhörbar vor Hochmut und leichtfertiger Verachtung der Narren, die immer die anderen sind, nur nie man selber. Er stellte den Hörern den Athener Sokrates vor Augen, der "ganz bei sich und deshalb mit sich Freund" war. Sich selbst gehören ist Voraussetzung, um nicht zur Masse zu gehören.

Foto: Massenszene aus dem Film "Metropolis" (1927) von Fritz Lang: Die Ressource Identität verknappt

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