© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/08 14. März 2008

Enzensberger oder Der Geschäftssinn
Themenwahl auf Nachfrage: Der "rote General" Kurt von Hammerstein und seine Töchter
Markus Flade

Hans Magnus Enzensberger gehörte zum Inventar der Bonner Republik. Und hat sich hinübergerettet in die Berliner. Der Typus des repräsentativen Intellektuellen, einer von jenen, die uns der Opus-Dei-abtrünnige FAZ-Redakteur Christian Geyer neulich als unverzichtbar ans Herz legte. Irgendwie auch ans Portemonnaie, denn dieser 1929 geborene, unheilbar an Logorrhoe leidende Autor schreibt oder bevorwortet pro Jahr ein Buch, so über den Daumen gepeilt, und dies seit 1957.

Eine Leistung, die als sportliche Respekt verdient. Fünfzig Jahre am Puls der Zeit. Schon der lyrische Erstling, "verteidigung der wölfe" war ein sprachspielerisch geschicktes Surfen auf der auslaufenden Brecht- und Benn-Welle. Es folgten die für "Gesellschaftskritiker" lukrativen 60er. Daß der Castro-fixierte Kursbuch-Macher in Götz Alys Retrospektive "Unser Kampf" (JF 10/08) dabei eher als urkomische Charge wirkt, muß nicht irritieren. Enzensberger, der nach einem verunglückten Kuba-Aufenthalt endlich zwischen Realismus und Sozialismus halbwegs zu unterscheiden wußte, spürte bald darauf die Resonanzzonen des Zeitgeistes wie ein Schweißhund auf. Als Ende der 70er die "Tunix"-Mentalität um sich griff, die "bleierne Zeit" des "deutschen Herbstes" einsetzte, war er mit dem "Untergang der Titanic" (1978) zur Stelle. Kurz vor dem Mauerfall, als das "mitteleuropäische" Gespenst umging, erkundete er Polen und die CSSR und berichtete darüber in sämigen Reportagen ("Ach Europa!", 1988). Pünktlichst zum ersten Irakkrieg der US-Amerikaner enttarnte er 1991 im Spiegel Saddam Hussein als "Wiedergänger Hitlers".

Reaktionen auf den Aberwitz einer "weltoffenen" bundesdeutschen Asylpolitik, medial reduziert auf "Solingen, Mölln, Rostock, Hoyerswerda", kommentierte der Exponent der "suhrkamp culture" mit dem "deliranten Gefasel" (Enzensberger über "Andersdenkende") seiner berüchtigten "Fußnote über einige Besonderheiten bei der Menschenjagd" (1993). Im sich damals entladenden "Volkszorn" sah die Ikone der Toskana­fraktion die "Bewohnbarkeit der Bundesrepublik" in Frage gestellt, wollte er das Menetekel des "Endes von Weimar" erkennen. Im gleichen Atemzug legte er sich "Die große Wanderung" (1993) im Ungeist des linken Stammtisches zurecht. Es gäbe ja gar kein deutsches Volk im Sinne ethnischer Homogenität. Die Bundesdeutschen? Sie seien doch selbst zum "großen Teil Neuankömmlinge". "Migranten" aus "dem Osten", 1945 "mobilisiert". Wie käme dieser Haufen von "Einwanderern" dazu, nun "Vorrechte" auf soeben bezogenem Territorium gegenüber Anatoliern und Kongolesen zu reklamieren? "Das Boot ist voll"? Für Enzensberger eine "Wahnvorstellung".

Es gibt wenige Dokumente aus der Ära des deutsch-deutschen Umbruchs, die den Wirklichkeitsverlust der deutenden Klasse anschaulicher werden lassen. Nur beschränkte sich dies nicht auf ein akademisches Glasperlenspiel. Enzensberger, staatstragend und geschäftstüchtig, subaltern und leibpfäffisch wie eh und je, formulierte damit nur den "gesellschaftlichen Konsens". Von hier aus war dann vielleicht noch kalendarisch, aber nicht mehr logisch eine Strecke zu überwinden, bis Kanzlerin Merkel im Februar 2008 gegenüber Türken von "unserem gemeinsamen Land" zu reden wagte.

Enzensberger jedenfalls hat zu dieser umfassenden Desorientierung sein Scherflein beigesteuert. Seine "Aussichten auf den Bürgerkrieg" (1993) ersparten der politischen Klasse eine nähere Bekanntschaft mit den sich ankündigenden Verwerfungen ihres "multikulturellen Projekts". Irgendwie sei das auf "Überbevölkerung", unvermeidliche "Wanderung", schicksalhafte "Verteilungskämpfe" und "Reaktionsbildungen auf Modernisierungsdruck" zu erklären und werde "irgendwie" natürlich auch auf die Reihe kommen. Plattheiten dieser Güte verteilt der polyglotte Skribent per Schrotschuß, europaweit, von der Zeit bis El País.

Auf dieser Linie fortschreibend, wäre von ihm heute vielleicht ein Pasquill zur "Klimakatastrophe" zu erwarten gewesen. Stattdessen, prima vista unzeitgemäß, ein Dokumentarroman über einen preußischen General. Noch dazu über einen "eigensinnigen". Für einen notorischen Konformisten ein sprödes Sujet. Doch auf den zweiten Blick paßt wieder alles zusammen.

Denn der General, Kurt von Hammerstein-Equord, quittierte 1934 als Chef der Reichswehr seinen Dienst, weil er den neuen Reichskanzler Adolf Hitler nicht mochte. Auf ein irgendwie abseitiges, uneinträgliches Terrain hat sich Enzensberger damit also keineswegs begeben. Wieder bewährt sich sein Geschäftssinn aufs glücklichste. Denn: "Hitler sells" - immer. Hammerstein als Kontrastfigur zu den "Braunen", zur preußischen "Militärkaste", zu seinem Schwiegervater Lüttwitz, dem bewaffneten Arm des "Kapp-Unternehmens", zu Ludendorff - "auch ein Versager"-, zu Hindenburg - "politisch eine Null".

Aber auch derart ausstaffiert als "Alternativer" in Uniform, Republikaner unter lauter Feinden Weimars, wäre mit Hammersteins Vita kaum eine Broschüre zu füllen gewesen. Dazu war er zu sehr Protegé seines Regimentskameraden Kurt von Schleicher, der ihn an die Reichswehrspitze beförderte. Ein Amt, das für ihn eine Nummer zu groß war. Sein militärpolitisches Profil blieb unscharf, innenpolitisch beschränkt auf einen kleinen Kraftakt, Hitlers Kanzlerschaft zu verhindern, außenpolitisch etwas markanter bei der Ausgestaltung der Kooperation zwischen Reichswehr und Roter Armee. Trotzdem nie aus dem Schatten Schleichers tretend. Im November 1930 trat der bis dahin mit der Entwicklung taktischer Konzepte für eine hinhaltende Verteidigung der 100.000-Mann-Reichswehr gegen feindliche Angriffe beschäftige Chef des Truppenamtes auf Drängen des damaligen Staatssekretärs Kurt von Schleicher und Reichswehrministers Wilhelm Groener unter gleichzeitiger Beförderung zum General der Infanterie den neuen Posten als Chef der Heeresleitung an. Allerdings war sein Engagement in dieser Position seiner Leidenschaft zur Jagd immer nachgeordnet, seine Faulheit in der Reichswehrführung fast sprichwörtlich. Gegenüber Untergebenen interpretierte Hammerstein seinen "zurückhaltenden" Führungsstil folgerdenmaßen: "Lassen Sie sich viel Zeit, sich Gedanken zu machen und sich vor sich selbst ganz klar zu werden. Sorgen Sie dafür, daß Ihre Gedanken ausgeführt werden. Nur so können Sie richtig führen."

Für Enzensberger wesentlich ergiebiger erwies sich das Leben der drei Töchter des vor seinem Krebstod 1943 noch kurzzeitig reaktivierten "roten" Generals, die in kommunistischen Kreisen verkehrten, und von denen sich Marie-Luise und Helga in Stalins Militärspionage einspannen ließen. Doch was hierüber aus Moskauer Akten zu erfahren war und was für kurzweilige Buntheit sorgt, die das Spionagemilieu immer bietet, das stammt von Enzensbergers fleißigem Adlatus Reinhard Müller. Keinen besseren Zuträger hätte der zeithistorisch eher Unbedarfte finden können als den Biographen Herbert Wehners, den Kenner des kommunistischen Exils in der "Menschenfalle Moskau". Die "Aufbereitung" fiel dann wohl leicht, bleibt aber, wie alles übrige, sprachlich konventionell, zeitigt Ermüdungseffekte.

Nur an drei Stellen verläßt Enzensberger den Schematismus seiner durch Nachfrage diktierten Themenwahl. Er stellt in Abrede, daß der Versailler Vertrag ein "intelligenter Frieden" gewesen sei. Franzosen und Polen hätten zudem alles getan, um die Deutschen seit 1919 "weiter zu demütigen". Ferner verbittet er sich "nachträgliche Besserwisserei" gegenüber Leuten, die 1933 zwar in den "nationalen Sog" gerieten, die aber den 20. Juli 1944 mit ihrem Leben bezahlten. Und er verwahrt sich gegen "moralische Urteile", die unter "komfortableren historischen Bedingungen" gefällt würden, die aber die Komplexität, in der unpolitische und politische Lebenswelten vor 1945 verschränkt gewesen seien, den "Skandal der Gleichzeitigkeit", nicht erfassen. Immerhin: drei abweichende Meinungen. Kündigt sich hier die Geburt eines "Querdenkers" an?

Hans Magnus Enzensberger: Hammerstein oder Der Eigensinn. Eine deutsche Geschichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2008, gebunden, 376 Seiten, Abbildungen, 22,90 Euro.

Fotos: Hans Magnus Enzensberger, etwa 2008: Sein politisches Profil blieb unscharf. Er gehörte zum alten Inventar der Bonner Republik und konnte auch später instinktsicher dem Trend hinterherschreiben; Kurt von Hammerstein, etwa 1934: Sein militärpolitisches Profil blieb unscharf, innenpolitisch beschränkt auf einen kleinen Kraftakt, vorübergehend Hitlers Kanzlerschaft zu verhindern

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