© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/08 21. März 2008

Gespräche über eine Chimäre
Überall nur Heuchler und Zyniker: Warum es keine Glaubwürdigkeit in der Politik mehr gibt
Thorsten Hinz

Es ist viel von der beschädigten oder gar zerstörten Glaubwürdigkeit der Politik die Rede - und von der letzten Aufrechten, der SPD-Landtagsabgeordneten Dagmar Metzger, die sich gegen eine informelle rot-rot-grüne Koalition in Hessen querlegte und damit einen Glaubwürdigkeitsrest rettete. Mehr als ein Rest kann es nicht sein, denn sie steht einer überwältigenden Negativ-Fraktion gegenüber: an deren Spitze ihre Parteifreundin Andrea Ypsilanti, die über der Verlockung der Macht ihr Wahlversprechen vergaß, auf keinen Fall mit der Linken zusammenzuarbeiten.

Dann Bundesumweltminister Siegmar Gabriel (SPD), der - Kerosin hin oder her - im Alleinflug zwischen Berlin und Mallorca pendelte. Weiterhin die Grünen-Politikerin Marianne Tritz, die künftig für die Tabaklobby tätig wird, obwohl sich die Fraktion der Grünen im Bundestag als härteste Verfechterin des Nichtraucherschutzes in der Gastronomie profiliert. Nicht zu vergessen Tritzens Parteifreund Matthias Berninger, der es als junger Berufspolitiker bis zum Parlamentarischen Staatssekretär im Verbraucher- und Ernährungsministerium brachte und seit einigen Monaten als "Director Corporate Health and Nutrition" (eine Leitungsfunktion im Bereich Gesundheit und Ernährung) bei der Süßwarenfirma Mars in Brüssel absahnt.

Darf ein Politiker anders handeln, als er vorher geredet hat? Kann man von ihm erwarten, daß zwischen sein politisches Programm und privates Tun kein Blatt Papier paßt? Es geht um den von Max Weber beschriebenen Konflikt zwischen dem Gesinnungs- und dem Verantwortungsethiker. Ersterer hütet "die Flamme der reinen Gesinnung" und ist ausschließlich darum besorgt, die eigene Reinheit durch keinen Kompromiß zu beschmutzen. Der Verantwortungsethiker dagegen, der alles menschliche Handeln für fehlbar hält, ist bereit, die Folgen der Fehlbarkeit auf sich zu nehmen. In idealtypischer Form sind beide unerträglich.

Für Weber waren die Gesinnungsethiker "in neun von zehn Fällen (...) Windbeutel (...), die nicht real fühlen, was sie auf sich nehmen, sondern sich an romantischen Sensationen berauschen". Die absolut verstandene, gesinnungsethische Wahrheitspflicht kann geradewegs in die Verantwortungslosigkeit und im weiteren Sinne zur Lüge führen. Verantwortungslos und wahrheitswidrig handelten in Webers Augen jene deutschen Gesinnungsethiker, die nach dem Ersten Weltkrieg im Namen der "historischen Wahrheit" einseitig die diplomatischen Geheimakten des Auswärtigen Amtes veröffentlichen wollten - was den Alliierten, die ihre eigenen Akten unter Verschluß hielten, Munition für ihre Kriegsschuld-Propaganda geliefert hätte. Andererseits kann ein Verantwortungsethiker, der Gesinnung bzw. Gewissen verleugnet, sich leicht zum Zyniker der Macht und Opportunisten entwickeln.

Es kommt also auf das Gleichgewicht an. Die hessische Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti hat daher versucht, gesinnungsethischen Anspruch und verantwortungsethische Notwendigkeit unter einen Hut zu bekommen. Um den höheren, guten Zweck - die Ablösung Roland Kochs - zu erreichen, müsse der Wortbruch als kleineres Übel eben in Kauf genommen werden.

Metzger, die ihre Ablehnung der Linken mit bitteren Erfahrungen während der deutschen Teilung begründet hat, wäre demnach eine verbissene Egomanin. Das ist sie natürlich nicht. Man darf davon ausgehen, daß sie im Hinterkopf noch weitere, verantwortungsethische Begründungen parat hat und - wie so viele - Ypsilanti als Ministerpräsidentin für überfordert hält. Erst recht ist nicht vorstellbar, daß Ypsilanti mit der Chaostruppe, welche die hessische Linke darstellt, eine verantwortliche Politik gestaltet.

Das, was Metzger sagt, und das, was sie mutmaßlich verschweigt, bringt die Gesinnungs- und Verantwortungsethik ins Gleichgewicht. Deswegen gilt sie als Beispiel für politische Glaubwürdigkeit und weckt infolgedessen Vertrauen in ihre politische Entscheidungskompetenz. Sie ist allerdings eine altmodische Figur, die den alten, ehrenhaften Sozialdemokratismus repräsentiert, wie ihn Friedrich Ebert, Kurt Schumacher, Helmut Schmidt oder die gerade verstorbene Annemarie Renger verkörperten. Es ist kein Zufall, daß die beiden letzteren zu Oskar Lafontaine ein gestörtes Verhältnis hatten.

Anders liegen die Dinge bei den Grünen-Politikern. Sie sind mit der Weberschen Begrifflichkeit nicht mehr zu erfassen, denn die Grünen erzielten ihren Durchbruch als eine Gesinnungspartei neuen Typus. Die normale und psychologisch wohl notwendige Überzeugung eines Politikers, den richtigen Standpunkt zu vertreten, koppelten sie mit einem moralisch aufgeladenen Schuldvorwurf an ihre Gegner. Ihren Politikansatz propagierten sie als hyperpolitisches und -moralisches Projekt und als Abarbeitung von (deutscher) Schuld. Dagegen war in der inzwischen hinreichend desorientierten deutschen Nachkriegsgesellschaft kein Kraut mehr gewachsen.

Einige Spitzenleute personifizierten die gesinnungsethische Hypertrophie äußerst glaubwürdig: Um keinen Preis wäre die Parteigründerin Petra Kelly in die Rüstungs- oder Atomindustrie gegangen unter dem Vorwand, sie von innen heraus verändern zu wollen! Doch aus dieser Art von Glaubwürdigkeit entsprang noch kein Vertrauen in ihre politische Urteilsfähigkeit, weil sie ohne Selbstdistanz und Verantwortungsethik blieb. Sich Kelly im Amt der Energie-, Forschungs- oder gar Verteidigungsministerin auszudenken, verursacht noch nachträglich einen Angsttraum.

Ihre gesinnungsethische Reinheit war freilich schon damals die Ausnahme. Für die heutigen Grünen - und für die übrigen Politiker, die von ihnen gelernt haben - ist die Gesinnung kein ethisches Prinzip, sondern ein gezielt eingesetztes Mittel, um politische Macht zu erlangen. Damit betreten wir die Sphäre der Heuchelei, wie sie der Berliner Sozialphilosoph Peter Furth in seiner 1995 gehaltenen Abschiedsvorlesung über "Heuchelei und moralische Weltanschauung" beschrieben hat: "Der Heuchler ist ein Konformist, der auf die Verfolgung seiner eigensinnigen Interessen nicht verzichtet."

Wenn aber die Gesinnungsethik zur Heuchelei und zum Konformismus verkommen ist, steht sie auch in keinem Spannungsverhältnis mehr zur Verantwortungsethik und kann diese nicht daran hindern, sich in Machtzynismus und in einem am Privatwohl orientierten Opportunismus zu verwandeln. Beide bilden dann einen einzigen moralischen Sumpf. Und damit handelt das Gespräch über die Glaubwürdigkeit der deutschen Politik - im Prinzip - von einer Chimäre. Thorsten Hinz

Foto: Dagmar Metzger, SPD-Landtagsabgeordete in Hessen: Eine altmodische Figur, die die alte, ehrenhafte Sozialdemokratie verkörpert

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