© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/08 28. März 2008

Soziale Eiszeit an der Weichsel
Polen: Premier Tusk hat nicht nur mit der Opposition, sondern auch mit immer mehr Streiks zu kämpfen
Lubomir T. Winnik

Der im Ausland mit viel Vorschußlorbeeren versehene polnische Premier Donald Tusk hat es derzeit in seiner Heimat nicht einfach. Das liegt vor allem an der größten Oppositionspartei, der sozialkonservativen PiS seines Amtsvorgängers Jarosław Kaczyński und dessen Bruders, des Staatspräsidenten Lech Kaczyński. Diese fordern, das polnische Parlament solle den EU-Reformvertrag von Lissabon nicht einfach ratifizieren, sondern dem entsprechenden Gesetz eine einschränkende Präambel voranstellen.

Damit solle festgeschrieben werden, daß Polen Änderungen im EU-Reformvertrag nur dann zustimmen darf, wenn sich Präsident, Regierung und Parlament darauf verständigt haben. Polen solle weiter ein "souveräner Staat" bleiben und dürfe nicht zu einem "Regierungsbezirk Brüssels" werden. Die polnische Verfassung müsse in jedem Fall anderslautendes EU-Recht brechen. Hauptkritikpunkt ist dabei die EU-Grundrechtecharta. Die nationalkatholisch-wertkonservative PiS befürchtet, daß dadurch gezwungen werden könnte, beispielsweise die Homo-Ehe einzuführen. Auch könnten deutsche Vertriebene durch die Grundrechtecharta dazu ermutigt werden, ihre Eigentumsansprüche gegenüber Polen geltend zu machen.

Tusk und seine wirtschaftsliberale Bürgerplattform PO, ihr Koalitionspartner (die bäuerliche Volkspartei PSL) sowie das postkommunistisch-linksliberale Oppositionsbündnis LiD wollen den EU-Vertrag dennoch ratifizieren - doch dazu sind mindestens 14 Stimmen von PiS-Abgeordneten nötig. Ein Scheitern ist durchaus nicht unmöglich. Tusk und die LiD schließen daher eine Volksabstimmung über die Annahme des EU-Reformvertrages nicht mehr aus. Sogar vorgezogene Neuwahlen sind im Gespräch - doch ob diese die PiS wirklich so schwächen würden, wie Meinungsforschungsinstitute vorhersagen, ist fraglich.

Denn auch soziale Fragen bringen den Premier zunehmend in Bedrängnis. So verklagte im Januar der zuckerkranke Rentner Jerzy Stefaniak das polnische Finanzministerium auf Entschädigung, das es unterlassen habe, ihm das Existenzminimum zu garantieren. Der ehemalige Automechaniker aus Lodz erhält eine Monatsrente von 600 Złoty (168 Euro). Erforderlich wären über 1.600 Złoty (449 Euro), wie er selbst berechnet hatte. So belief sich seit seiner Pensionierung im Jahr 1983 der ausstehende Betrag auf 238.000 Złoty (66.000 Euro). Dafür verantwortlich seien vor allem die steigenden Mietkosten. 1983 machten diese vier Prozent seines Einkommens aus, gegenwärtig aber 47 Prozent. Nach der Entrichtung der Miete verbleiben ihm für den Lebensunterhalt ganze fünf Złoty (1,40 Euro).

Die Verzweiflung des betagten Mannes ist symptomatisch für die dramatische Lage von zwölf Millionen Rentnern in Polen, die in den Medien immer häufiger thematisiert wird. So muß sich etwa eine Ex-Psychologieprofessorin aus Warschau mit 550 Złoty (154 Euro) zufrieden geben. Ein ehemaliger, während des Kriegsrechts in Polen (1981/83) inhaftierter Solidarność-Aktivist erhält 1.500 Złoty (420 Euro), derweil seine Peiniger vom Staatssicherheitsdienst, die einstigen SB-Generäle, 5.000 bis 11.000 Złoty (1.400 bis 3.000 Euro) monatlich kassieren.

Die günstige Wohnungsmiete (ohne Nebenkosten) hingegen - abhängig von der Lage und Region - kostet 500 bis 1.000 Złoty (140 bis 280 Euro). Doch die preiswerten Wohnungen sind rar, der angekündigte Wohnungsbau stockt, die Preise für Elektrizität, Wasser, Gas, Steinkohle und Grundnahrungsmittel erreichen langsam, aber sicher das westliche Niveau.

Grund zum Mißmut haben jedoch nicht nur die Rentner. Der Beitritt Polens zur EU erweckte in der Bevölkerung die naive Hoffnung auf eine rasche Verbesserung ihres Lebensstandards. Die wie Pilze aus dem Boden schießenden riesigen westlichen Kaufzentren, die Warenflut und Angebote und damit verbundene ungehemmte Konsumwerbung zielen auf die Jungen, Gebildeten und Erfolgreichen - Tusks Stammwählerklientel. Bei den Wendeverlierern erzeugen sie die entgegengesetzte Wirkung: Anders als vor 1989 ist zwar alles da, aber die eigene Geldbörse ist leer.

In seinem Wahlkampf 2007 versprach Tusk den Polen ein baldiges "Wirtschaftswunder" und die Verbesserung ihrer materiellen Lage aller, vor allem jener der Angestellten im öffentlichen Dienst. "Nun ist er zur Geisel der eigenen Verheißungen geworden", klagte eine Sejm-Abgeordnete, "er wußte doch während des Wahlkampagne schon genau, daß unser Staatsetat über solche Mittel nicht verfügt."

Die Krankenschwestern drohen mit erneuten Streiks, falls ihre Gehälter (etwa 1.300 bis 1.500 Złoty, umgerechnet 365 bis 420 Euro) nicht bald verdoppelt würden. 15.000 Ärzte fehlen bereits in den polnischen Krankenhäusern, denn viele sind in den Westen abgewandert. Über 300 Ärzte haben im ersten Quartal gekündigt, sie wandern ebenfalls ins Ausland aus. Die übriggebliebenen pochen auf Verdoppelung oder gar Verdreifachung ihrer Gehälter - welche nur um ein Paar hundert Złoty höher als diejenigen der Krankenschwestern sind - sowie eine angemessene Entschädigung für andauernde Überstunden.

Auch die polnische Lehrerschaft wollte Tusk bevorzugt behandeln. Das Durchschnittsgehalt eines Gymnasiallehrers mit 20jähriger Berufspraxis beträgt um die 1.600 Złoty (449 Euro). Die Lehrer fordern 1.100 Złoty (308 Euro) mehr Lohn. Tusk will nur 185 Złoty (51 Euro) zahlen. Der Verband der Polnischen Lehrer (ZNP) füllt sich herb getäuscht, seine Drohung ist unmißverständlich: Ausgerechnet zur Abiturabschlußzeit im Mai wollen die Lehrer in den Ausstand treten, wodurch ein ganzes Schuljahr zunichte gemacht würde.

Wegen schleppender Zollabfertigung an den neuen Schengen-Ostgrenzen kam es im Januar zu sporadischen LKW-Blockaden. Die Zollbeamten ihrerseits beklagten Personalmangel, zu lange Arbeitszeiten und zu niedrige Löhne. Weil sie von Gesetz wegen nicht streiken dürfen, nahmen sie Urlaub oder erschienen nicht am Arbeitsplatz (JF 6/08). Sie fordern 1.500 Złoty (420 Euro) mehr, Tusk bot 500 Złoty (140 Euro) an. Die Zöllner lehnten dies ab. In der Folge blieben für Wochen bis zu 16.000 LKWs an den Grenzen stecken. Die so entstandenen Verluste der Transportfirmen stiegen in Millionenhöhe. Dazu gesellen sich die ausländischen Transporteure.

Nach provisorischer Einschätzung des Ukrainischen Verbandes der Internationalen Transportunternehmen betrug die Verlustquote um die acht Millionen Dollar täglich. Eine Entschädigungsklage gegen Polen wird nun in Betracht gezogen. Seitdem rollt der Verkehr wieder, aber das Problem ist immer noch nicht vom Tisch. Erneute Zollbeamtenproteste können die Ostgrenzen jederzeit wieder unpassierbar machen.

Sechs Wochen Streik gab es zu Jahresbeginn beispielsweise auch im oberschlesischen Ornontowitz (Ornontowice) bei Gleiwitz, wo die Kumpel der staatlichen Zeche "Budryk" sogar ohne gewerkschaftliche Unterstützung für höhere Löhne stritten. Das 1990 eröffnete Kohlebergwerk ist hochmodern und profitabel. Dennoch erhielten die Budryk-Bergleute mit knapp 4.200 Złoty (1.180 Euro) etwa ein Viertel weniger als beispielsweise ihre Kollegen in den drei größten polnischen Zechen JSW, KHW und KW. Doch "Budryk" soll privatisiert und dafür zunächst an die JSW angeschlossen werden. Die Angleichung des Lohnniveaus sollte auf fünf Jahre gestreckt werden - aber ohne Garantie. Man einigte sich schließlich auf eine sofortige Lohnerhöhung um zehn Prozent und eine Einmalzahlung von 1.500 Złoty (420 Euro). Die Angleichung der Löhne soll spätestens in drei Jahren vollzogen sein.

"Ich habe Donald Tusk während des Wahlkampfes mehrfach davor gewarnt, von unrealistischen Versprechungen Abstand zu nehmen. Ansonsten drohen die lawinenartigen Streiks das ganze Land zu lähmen. Nun ist es soweit", kommentierte Ex-Premier Kaczyński die Ereignisse. Sogar die Staatsanwälte und die Polizei haben schon gestreikt. Am 31. März will nun selbst die vergleichsweise privilegierte Beamtengruppe der Richter in den Ausstand zu treten, obwohl ihre Bezüge relativ hoch sind: Ein Berufsanfänger verdient durchschnittlich 5.200 Złoty (1.472 Euro), ein höherer Richter gar 8.000 Złoty (2.266 Euro) im Monat. Nun verlangen sie 10.000 Złoty (2.832 Euro).

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen